ZOiS Spotlight 6/2022

Belarus stimmt (nicht) ab: Lukaschenkas Verfassungsreform aus Sicht der Bevölkerung

Eine Oppositionsaktivistin mit der belarusischen Verfassung auf einer Kundgebung. IMAGO / ITAR-TASS

Vom 22. bis 27. Februar sind alle in Belarus lebenden Belarus*innen dazu aufgerufen, bei einem sogenannten Referendum über Verfassungsänderungen abzustimmen, die der belarusische Machthaber Aljaksandr Lukaschenka erst am 20. Januar 2022 in der finalen Fassung veröffentlicht hat und die seine Macht zumindest mittelfristig weiter konsolidieren werden. Unsere repräsentative Online-Umfrage unter der belarusischen Stadtbevölkerung mit Internetzugang vom September 2021 zeigt aber auch, dass es unwahrscheinlich ist, dass Lukaschenka die Reform durch das Referendum legitimieren kann. Seine Gegner*innen streben Neuwahlen an, und viele seiner Kernunterstützer*innen sind durch den „Wandel von oben“ eher verunsichert und stehen einigen Änderungen sogar skeptisch gegenüber.

Die Ursachen der Verfassungsreform gehen weit über die gefälschten Präsidentschaftswahlen im August 2020 und die darauffolgenden Proteste hinaus. Lukaschenka spricht schon seit einem Jahrzehnt von einer „Reform“ des politischen Systems. Der Grund ist vor allem im Dilemma jedes personalistischen autoritären Regimes zu suchen: Die Machtübergabe ist hier nicht durch stabile, personenunabhängige Institutionen und faire, freie Wahlen geregelt. Außerdem ist selbst der kontrollierte Transfer des Präsidentenamtes an einen designierten Nachfolger hochriskant. Personalistische Herrscher tendieren deswegen dazu, sich bis zum körperlichen Ableben an die Macht zu klammern. Da Lukaschenka das Zepter fest in der Hand zu halten glaubte, war er das Problem „Machttransfer“ bisher zögerlich angegangen.

Die Präsidentschaftswahlen im August 2020 wirkten deshalb wie ein Katalysator. Im Zuge der brutalen Niederschlagung der Protestbewegung forderte die ehemalige Präsidentschaftskandidatin Swjatlana Zichanouskaja und der neu gegründete Koordinationsrat der Opposition vor allen Dingen Neuwahlen. Diese lehnte Lukaschenka kategorisch ab, bot aber eine Verfassungsreform als vermeintlichen Ausgleich an. Noch vor Ende 2020 versprach Lukaschenka nicht nur vorgezogene Wahlen unmittelbar im Anschluss an die Verfassungsreform, die insbesondere die Kompetenzen des Präsidenten beschneiden sollte. Er kündigte anfangs auch noch an, dass er nach den Verfassungsänderungen nicht im Präsidentenamt verbleiben werde.

Bei der OSZE und den Vereinten Nationen versuchten belarusische Offizielle die Ausarbeitung der Verfassungsänderungen als „zivilisierten Dialog“ im Gegensatz zu den Protesten darzustellen. Einige Beobachter*innen gehen davon aus, dass Russland noch im Spätherbst 2020 auf Verfassungsänderungen drängte, die einen kontrollierten Machtwechsel ermöglichen würden. So rief etwa der russische Außenminister Sergej Lawrow Lukaschenka zu einem „nationalen Dialog“ unter Einbeziehung der Opposition auf.

Entscheidend für den weiteren Verlauf der Verfassungsreform war aber, dass Lukaschenka – nicht zuletzt mit Hilfe Russlands – im Winter 2020/21 die Protestbewegung brechen und seine Macht im Staatsapparat konsolidieren konnte. Von „nationalem Dialog“ konnte also keine Rede sein, die öffentliche Arbeit an den Verfassungsänderungen nahm buchstäblich in einem KGB-Gefängnis ihren Anfang: Am 10. Oktober 2020 besuchte Lukaschenka dort inhaftierte Oppositionelle, von denen schließlich Jury Waskresenski, der ehemalige Mitstreiter des inhaftierten Präsidentschaftsbewerbers Wiktar Babaryka, unter der Bedingung freigelassen wurde, dass er von nun an als angeblicher Vertreter der Opposition am Verfassungsänderungsprozess teilnehmen würde.

Plebiszite wie jenes am 27. Februar gehören zur gängigen Praxis in nicht-demokratischen Regimen: Allerdings bleibt festzuhalten, dass derartige Plebiszite gerade keine Foren demokratischer Teilhabe sind, sondern Instrumente der Einschüchterung und Kontrolle der Bevölkerung. So wurden Teilnehmende an der sogenannten „Volksdebatte“, die landesweit im Vorfeld der Abstimmung im Januar stattfand, vor allem von Behörden und Staatsunternehmen mobilisiert. Dissens war hier nicht gefragt, 99,25 Prozent der eingereichten Kommentare hießen die Änderungen angeblich gut.

Lukaschenka baut seine Macht aus und macht Russland Zugeständnisse

Innenpolitisch kann das Ergebnis der anstehenden Verfassungsreform abschließend erst mit der nächsten Präsidentschaftswahl gedeutet werden. Diese wird allerdings nicht direkt im Anschluss nach Inkrafttreten der Verfassungsänderungen stattfinden, sondern womöglich erst im Jahr 2025. Trotz wieder eingeführter Amtszeitbeschränkung wären für Lukaschenka damit zwei weitere Amtszeiten bis 2035 möglich, sollte er erneut zur Wahl antreten.

Bis dahin vergrößert sich die Machtkonzentration in Lukaschenkas Händen noch, denn neben dem Präsidentenamt und dem Vorsitz des mächtigen Sicherheitsrats kann er ebenfalls Vorsitzender der All-Belarusischen Volksversammlung – von nun an das oberste repräsentative Staatsorgan mit Verfassungsstatus noch über dem nationalen Parlament – werden. Dass das Präsidentenamt einige Kompetenzen an andere Staatsorgane verliert, hat deshalb vorerst keinen realen Machtverlust für Lukaschenka zur Folge. Gleichzeitig gewinnt die All-Belarusische Volksversammlung nicht so viel an Macht hinzu, als dass deren Vorsitz einen sicheren Posten darstellen würde, auf dem Lukaschenka auch nach einem möglichen Rücktritt einen neuen Präsidenten zuverlässig in Schach halten könnte.

Außenpolitisch könnten sich insbesondere zwei Änderungen als von großer Tragweite erweisen: In der revidierten Verfassung ist das Streben des belarusischen Staates nach außenpolitischer Neutralität und nach einem atomwaffenfreien Staatsgebiet gelöscht worden. Einer tieferen Integration mit Russland im Rahmen des Unionsstaates und einer Stationierung russischer Atomwaffen steht zumindest verfassungsrechtlich nichts mehr im Wege.

Die Sicht der Bevölkerung auf die Verfassungsänderungen

Das geltende Wahlrecht und die repressiven politischen Bedingungen im Land lassen keine faire und freie Abstimmung zu. Dennoch lohnt sich ein Blick darauf, welche Einstellungen die Belarus*innen zu den Verfassungsänderungen haben. Sicher ist, dass Lukaschenka die überwiegende Mehrheit seiner Opponent*innen nicht für die Änderungen gewinnen kann, selbst wenn diese grundsätzlich Referenden zur Abstimmung über Verfassungsänderungen als richtig erachten. Denn mehr als drei Viertel der Befragten, die an den Protesten von 2020/21 teilgenommen haben, wünschen sich zuerst faire und freie Wahlen vor einer Verfassungsreform. Zichanouskaja ruft zwar ihre Anhänger*innen dazu auf, am Referendum teilzunehmen, sie sollen aber die Wahlzettel ungültig machen.

Grafik 1: Umfrage zum Modus der Verfassungsreform

Im Bereich der Gewaltenteilung gibt es unter allen Befragten große Mehrheiten für eine Beschneidung präsidialer Kompetenzen und einen größeren Einfluss der Kommunen. Allerdings balanciert Lukaschenka hier auf einem sehr schmalen Grat: Denn viele seiner bekennenden Wähler*innen wollen vor allem Stabilität und lehnen die Wiedereinführung von präsidialen Amtszeitbeschränkungen oder die Abschaffung der wirkmächtigen Präsidialdekrete ab.

Bei Verfassungsänderungen ohne klare Mehrheiten kann man zwei Kategorien unterscheiden: Zum einen finden sich im Lukaschenka-Entwurf auch solche Änderungen, denen die unterschiedlichen politischen Lager recht ähnlich gegenüberstehen, so etwa dass die Ehe als Union von Mann und Frau zu definieren ist. Andererseits gibt es Bereiche, in denen Belarus*innen stark polarisiert sind. Hierzu gehört etwa die Ausgestaltung der Flagge: Während Lukaschenka die derzeitige grün-rote Flagge beibehalten will, war die weiß-rot-weiße Flagge nicht nur eines der wichtigsten Symbole der Protestbewegung. Sie fand auch Einzug in den Verfassungsentwurf von Swjatlana Zichanouskaja, der allerdings beim Referendum nicht zur Abstimmung zugelassen wird. Für Protestteilnehmende ist die Frage der Flagge deutlich zentraler als für Oppositionelle, die sich nicht an den Protesten beteiligt haben. Auch die Abschaffung außenpolitischer Neutralität stößt vor allem innerhalb der Protestbewegung auf große Ablehnung, was nahelegt, dass Protestierende einer außenpolitischen Vereinnahmung durch Russland kritisch gegenüberstehen.

Grafik 2: Umfragen zur Wiedereinführung präsidialer Amtszeitbeschränkungen, Beibehaltung der grün-roten Flagge, Abschaffung der außenpolitischen Neutralität und Bestätigung von Verfassungsänderungen per Referendum

Insgesamt bleibt festzuhalten, dass die belarusische Bevölkerung durchaus differenzierte Einstellungen zur Verfassungsreform hat. Trotz gesellschaftlicher Fragmentierung wird klar, dass die Verfassungsänderungen weder das Problem des „Machttransfers“ für Lukaschenka eindeutig lösen, noch das Ergebnis eines „nationalen Dialogs“ darstellen, der zu einem Ausweg aus dem gesellschaftlichen Konflikt seit August 2020 beitragen könnte. Die Verfassungsänderungen sollten also nicht als vorläufiges Ende dieses Prozesses angesehen werden, sondern als Beginn einer neuen Runde des Konflikts im Vorfeld der nächsten Präsidentschaftswahlen.


Fabian Burkhardt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Politikwissenschaftlichen Forschungsgruppe am Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg.

Jan Matti Dollbaum ist Post-Doc am SOCIUM der Universität Bremen.