ZOiS Spotlight 8/2022

Politische und gesellschaftliche Reaktionen postsowjetischer Länder auf Putins Krieg

In kaum einem postsowjetischen Land kam es zu solch massenhaften Demonstrationen gegen Putins Krieg in der Ukraine wie in Georgien. Vakho Kareli

Georgien

Diana Bogishvili

Bereits am 24. Februar, dem Tag des Angriffs Russlands auf die Ukraine, fand ohne besondere Organisation in Tiflis eine große Antikriegsdemonstration mit über 30.000 Menschen statt. Seitdem gehen die Menschen täglich auf die Straße. Ein zusätzlicher Auslöser für diese massive gesellschaftliche Mobilisierung war auch die Erklärung des georgischen Premierministers Irakli Garibaschwili. Die Regierung hatte den militärischen Angriff zwar als inakzeptabel bezeichnet, sich jedoch geweigert, sich den vom Westen auferlegten Sanktionen anzuschließen. Garibaschwili erklärte: „Europas größtes Land befindet sich im Krieg, die ukrainische Hauptstadt wird bombardiert und wir sehen, dass niemand das verhindern kann. Sanktionen sind kein wirksames Mittel.“ Garibaschwilis Position wurde in den sozialen Medien von vielen Georgier*innen als „unwürdige Rhetorik eines erbärmlichen Premierministers“ bewertet. Nachdem die georgische Regierung am 1. März freiwilligen Kämpfern und medizinischem Personal den Abflug aus Georgien untersagt hat, gab der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bekannt, den Botschafter seines Landes aus Tiflis abzuziehen.

Die große Mehrheit der georgischen Gesellschaft fordert, dass ihre Regierung bedingungslos zur Ukraine hält und in der Konfrontation zwischen Putin und dem Westen klar für eine demokratische Welt einsteht. Der Aussage des georgischen Premierministers folgte auch in der Ukraine eine negative Reaktion. Es wurde an die russische Aggression gegen Georgien im August 2008 erinnert, als der damalige ukrainische Präsident nach Tiflis kam, um dem georgischen Volk zur Seite zu stehen. Selenskyj reagierte auf die Antikriegsposition der georgischen Gesellschaft wie folgt: "Es gibt Zeiten, in denen die Bürger nicht die Regierung sind, sondern besser als die Regierung."

Aserbaidschan

Tsypylma Darieva

Offiziell versucht Aserbaidschan seine neutrale Position sowohl gegenüber Russland als auch gegenüber der Ukraine zu wahren. Damit vollführt das Land einen schwierigen Balanceakt, da beide Staaten strategische Partner Aserbaidschans sind. Kyjiw unterstützte Aserbaidschan im zweiten Berg-Karabach-Krieg, indem die ukrainische Regierung das Prinzip der territorialen Integrität betonte. Als wichtiger Akteur im Berg-Karabach-Konflikt hat Russland jedoch 2.000 Friedenssoldaten in diesem Gebiet stationiert, und erst am 22. Februar unterzeichnete Aserbaidschan eine gemeinsame Erklärung mit dem Kreml über eine "alliierte Zusammenarbeit".

Die lokalen, staatlich kontrollierten Medien in Aserbaidschan haben offen ihre Unterstützung für die Ukraine erklärt. Die humanitäre Hilfe des Landes für das Kriegsgebiet beinhaltet die Lieferung von Lebensmitteln, Medizin sowie kostenlosen Treibstoff für Rettungs- und Feuerwehrwagen an 59 Tankstellen des SOCAR-Unternehmens im ukrainischen Gebiet. Ähnlich wie die Türkei, die der wichtigste regionale Verbündete Aserbaidschans ist, hat die Regierung in Baku Hilfe bei den Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine angeboten. Abgesehen von der älteren Generation, die vornehmlich russische Medien konsumiert, scheint die Reaktion der aserbaidschanischen Bevölkerung klar: Viele Bürger*innen zeigen sich öffentlich solidarisch mit den Ukrainer*innen. Am 27. Februar versammelten sich hunderte Menschen vor der ukrainischen Botschaft in der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku. Dieses Mal griff die Polizei nicht ein.

Armenien

Tsypylma Darieva

Armenien hat als Reaktion auf den Krieg in der Ukraine eine neutrale Position eingenommen. Die Regierung in Jerewan ringt um ein strategisches Gleichgewicht zwischen ihrer Sicherheits- und Wirtschaftspartnerschaft mit Russland und ihrem Interesse an vertieften Beziehungen zum Westen. Die armenische Regierung hat gegen den jüngsten Beschluss gestimmt, Russland aus dem Europarat auszuschließen, beabsichtigt aber nicht, die selbsternannten „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk als unabhängige Staaten anzuerkennen. Russland ist für Armenien nicht nur als Wirtschaftspartner, sondern auch als militärischer Verbündeter im Streit mit Aserbaidschan um die Region Berg-Karabach von enormer Bedeutung. Dies bringt Armenien in eine schwierige Lage. Während die Aggression Russlands gegenüber der Ukraine im offiziellen Diskurs weitgehend totgeschwiegen wird, gibt es in der Zivilgesellschaft und auch in der Politik einige kritische Stimmen.

Die öffentliche Meinung in Armenien ist vielfältig, doch zwei Positionen spiegeln die zunehmende Polarisierung der armenischen Gesellschaft nach der "samtenen" Revolution im Jahr 2018 und dem verlorenen zweiten Krieg um Berg-Karabach wider: Prorussische Armenier*innen kritisieren die Ukraine wegen deren Unterstützung Aserbaidschans im Krieg um Berg-Karabach. Sie lehnen auch die gegen Russland verhängten Sanktionen ab, die die armenische Wirtschaft angesichts ihrer Abhängigkeit von der Arbeitsmigration, den Geldüberweisungen aus dem Ausland und dem Handel mit Russland ernsthaft beeinträchtigen werden. Die Anhänger*innen der proukrainischen Position sind besorgt darüber, wie Russland auf die langfristige Zusammenarbeit Armeniens mit dem Westen und die guten Beziehungen zur Europäischen Union und den USA reagieren wird. Demonstrationen gegen die Invasion der Ukraine gab es nur vereinzelt, in den sozialen Medien sind dagegen zunehmend kritische Stimmen und Solidaritätsbekundungen zu sehen.

Kasachstan

Beate Eschment

Kasachstan hat traditionell enge Beziehungen zum Kreml, gleichzeitig war es vor allem in den ersten Jahren seiner Unabhängigkeit nach 1991 mit Territorialansprüchen russischer Nationalisten auf seine an Russland grenzenden Gebiete konfrontiert, befindet sich also aktuell in einer heiklen Lage. Angesichts dessen wirken die bisherigen Stellungnahmen der kasachstanischen Führung erstaunlich eigenständig. Das Außenministerium hatte schon am 22. Februar die Anerkennung der selbsternannten „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk in der Ostukraine ausdrücklich abgelehnt. Nach der russischen Invasion in die Ukraine ist man nun, trotz des offensichtlichen russischen Drängens auf Solidaritätserklärungen der Bündnispartner, um strikte Neutralität bemüht. Nach Gesprächen zwischen dem russischen Premierminister Michail Mischustin und dem kasachstanischen Präsidenten Kassym-Dschomart Tokajew wurde nur verlautbart, man habe über die ökonomische Lage gesprochen. Der ersten Friedensgespräche an der ukrainisch-belarusischen Grenze ungeachtet schlug die Führung des Landes die eigene Hauptstadt Nur-Sultan als Ort für zukünftige Friedensgespräche und Kasachstan als Mediator vor.

Anders als in der Russischen Föderation berichten die kasachstanischen Medien auf der Basis von Meldungen beider Seiten von den Ereignissen. Bereits seit dem Tag des Einmarschs werden immer wieder Demonstrationen aus Almaty und Nur-Sultan gemeldet. Auch wenn dort nur wenige Dutzend Menschen teilnehmen, lassen viele Kommentare in den sozialen Netzwerken große Solidarität mit der Ukraine erkennen. Dafür spricht auch, dass gesellschaftliche Organisationen innerhalb weniger Tage und bei abstürzendem Kurs der nationalen Währung 40 Millionen Tenge für humanitäre Hilfe sammeln konnten.

Kirgistan

Beate Eschment

Anders als Kasachstan hat die Kirgisische Republik keine gemeinsame Grenze mit der Russischen Föderation, ist aber als einer der ärmsten Nachfolgestaaten der Sowjetunion ökonomisch und sicherheitspolitisch stark von ihr abhängig. Die offizielle Haltung von Präsident Sadyr Dschaparow ist derzeit nicht eindeutig zu bestimmen. Dschaparow hat am 23. Februar öffentlich Verständnis für die russische Anerkennung der beiden selbsternannten „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk im Donbass geäußert und es als Recht jeden Staates bezeichnet, einen anderen anzuerkennen. Die zwei Tage später in diversen Medien verbreitete Meldung, dass er in einem Telefongespräch mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin seine Unterstützung für dessen Angriff ausgedrückt und die Ukraine als dafür verantwortlich bezeichnet habe, stammte jedoch vom Pressedienst des russischen Präsidenten. Auf der offiziellen Website Dschaparows ist nur lakonisch von Gesprächen, unter anderem über die Lage in der Ukraine, die Rede. Bislang hat die kirgisische Führung eine Klarstellung vermieden. Am 1. März rief der ukrainische Präsident daraufhin den Botschafter seines Landes aus Bischkek zurück. Bei diversen Demonstrationen mit bis zu 100 Teilnehmenden vor den diplomatischen Vertretungen Russlands und der Ukraine in Bischkek und Osch wird nicht nur ein Ende des Krieges, sondern auch eine deutliche Verurteilung der russischen Invasion durch die eigene Regierung gefordert.

Usbekistan

Beate Eschment

Usbekistan ist politisch und ökonomisch deutlich weniger von Russland abhängig als Kirgistan, hat sich aber in den letzten Jahren nach dem Tod des früheren Präsidenten Islam Karimow Moskau politisch wieder angenähert. Dennoch war die Reaktion Taschkents deutlich, als Präsident Schawkat Mirsijojew wie sein kirgisischer Amtskollege nach einem Telefongespräch mit Wladimir Putin vom Pressedienst des russischen Präsidenten als Unterstützer vereinnahmt wurde. Mirsijojews Pressesekretär erklärte unmissverständlich, dass Usbekistan eine neutrale Position in dem Konflikt einnehme und Meinungsverschiedenheiten zwischen Staaten auf der Basis internationaler gesetzlicher Normen geregelt werden sollten. Die staatlich kontrollierten Medien des Landes sind wie die der beiden Nachbarländer ebenfalls um Neutralität bemüht und berichten von beiden Seiten. Von Demonstrationen, sei es aus Solidarität für die Ukraine oder gegen Putin, ist dagegen nichts bekannt. Politische Meinungsäußerungen auf der Straße sind auch im Usbekistan Mirsijojews keine Option. In den sozialen Medien wird die russische Invasion in die Ukraine dagegen sehr deutlich verurteilt.

Moldau

Sabine von Löwis

Die Republik Moldau steht in einem komplexen Verhältnis zum Krieg im Nachbarland Ukraine. Sie hat einen ungelösten Konflikt mit der von Moskau abhängigen Regierung des De-facto-Staats Transnistrien, der sowohl für die angrenzende Ukraine als auch für Moldau die aktuelle Unsicherheit in der Region zusätzlich erhöht – auch bedingt durch die seit Beginn der 1990er Jahre dort stationierten ca. 1500 russischen Soldat*innen und eigenen transnistrischen Truppen.

Die Regierung der Republik Moldau verurteilt den Krieg Putins gegen die Ukraine scharf und hat einen Ausnahmezustand für 60 Tage beschlossen. Sie hat den eigenen Luftraum gesperrt und damit die Ein- und Ausreise nach Moldau erschwert. Darüber hinaus sollen russische Medien, wie zum Beispiel Sputnik Moldau, die sich an die russische Minderheit in Moldau richten, gesperrt werden. Doch obwohl Präsidentin Maia Sandu den Krieg verurteilt hat, verhält sich Moldau neutral gegenüber den EU-Sanktionen und begründet dies damit, zu abhängig von der russischen Wirtschaft zu sein. In der Bevölkerung zeigen sich bereits zahlreiche Solidaritätsbekundungen mit dem Nachbarland, beispielsweise durch die Gründung verschiedener Initiativen zur Unterstützung der Menschen in der Ukraine.

Die Regierung Transnistriens verurteilt den Krieg Russlands gegen die Ukraine dagegen naturgemäß nicht, stellt aber Unterkünfte für Flüchtlinge aus der Ukraine bereit, die auch von einigen genutzt werden. Die Mehrheit der Flüchtlinge aus der Ukraine reist jedoch direkt nach Moldau oder weiter nach Westeuropa.

Ungeachtet der Treue der transnistrischen Regierung zu Russland dürfte die Angst vor einer Ausweitung des Kriegs auf ihre Heimat auf beiden Seiten des Dniesters bei den Menschen gleichermaßen hoch sein.


Diana Bogishvili ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Soziologin, Dr. Beate Eschment ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Zentralasien-Expertin, Dr. Tsypylma Darieva leitet den Forschungsschwerpunkt „Migration und Diversität“ und Dr. Sabine von Löwis leitet den Forschungsschwerpunkt "Konfliktdynamiken und Grenzregionen", alle am ZOiS.