ZOiS Spotlight 19/2023

Was junge Menschen aus Georgien über ihre Regierung denken

Von Tamar Khoshtaria 19.10.2023

Umfragen in Georgien zeigen, dass insbesondere die junge Generation mit der Politik ihrer Regierung nicht einverstanden ist. Interviews mit georgischen Migrant*innen in Berlin bestätigen diese Ergebnisse. Vor allem die als prorussisch wahrgenommenen politischen Entscheidungen werden kritisiert.

Eine junge Demonstrierende in Tbilisi im März 2023 bei Protesten gegen die geplante Einführung eines "Gesetz über die Transparenz ausländischen Einflusses". IMAGO / ITAR-TASS

Aus dem Englischen übersetzt von Armin Wolking.

Die aktuelle Regierung Georgiens steht häufig in der Kritik, sich vom Westen abzuwenden und prorussische Positionen einzunehmen, angefangen mit ihrer Entscheidung, keine Sanktionen gegen Russland zu verhängen, über ihre Weigerung, der Ukraine Waffen zu liefern, bis zur Wiederaufnahme von Direktflügen zwischen Georgien und Russland. Diese Entscheidungen, die mehrere Protestwellen auf den Straßen Tbilisis auslösten, gipfelten im Versuch der Regierungspartei Georgischer Traum, ein Gesetz zu erlassen, das es ermöglicht hätte, zivilgesellschaftliche Organisationen als „ausländische Agent*innen“ zu brandmarken und mit Bußgeldern zu belegen, sie also mit demselben Label zu belegen, das auch Russland für „Feinde“ aus dem Westen verwendet. Junge Menschen spielten eine wichtige Rolle bei den Großprotesten vom 7. und 8. März 2023, nach denen die Regierung ihren Gesetzesbeschluss wieder zurückziehen musste. Dieser Artikel wirft einen Blick auf die Einstellungen junger Menschen in Georgien gegenüber ihrer Regierung und präsentiert Interviews mit jungen Georgier*innen, die in Berlin leben.

Ansichten junger Menschen in Georgien

Im März 2023, kurz nach dem Versuch der georgischen Regierung, das „Gesetz über die Transparenz ausländischen Einflusses“ zu verabschieden, hat das Caucasus Research Resource Center (CRRC) in Georgien eine Umfrage unter der Bevölkerung durchgeführt. Die Ergebnisse zeigen, dass etwa derselbe Anteil von Menschen in Georgien die Leistung der Regierung positiv (42 Prozent) bewertet wie negativ (43 Prozent), während es 11 Prozent schwerfällt, die Frage zu beantworten. Vergleicht man verschiedene Altersgruppen, so herrscht unter den 18- bis 34-Jährigen eine größere Skepsis gegenüber der Regierung. Mehr als die Hälfte (54 Prozent) bezeichnet ihre Leistung als „schlecht“ oder „sehr schlecht“. Diese Meinung wird im Gegensatz dazu nur von etwa einem Drittel (35 Prozent) der älteren Altersgruppe (55 und höher) geteilt.  

Abbildung 1: Beurteilungen der Leistung der aktuellen Regierung

Quelle: NDI-Umfrage, durchgeführt von CRRC Georgien, März 2023

Gleichzeitig widersprechen 53 Prozent der 18- bis 34-Jährigen der Aussage, die Regierungspartei Georgischer Traum handle im besten Interesse des Landes und des georgischen Volkes. Bei älteren Menschen ist dieser Anteil geringer. Außerdem reagierten 70 Prozent der jungen Georgier*innen ablehnend auf die Frage, ob das georgische Parlament das „Gesetz über die Transparenz ausländischen Einflusses“ hätte verabschieden sollen, wohingegen der Prozentsatz bei den älteren Altersgruppen niedriger ausfiel.

Abbildung 2: Meinungen zum „Gesetz über die Transparenz ausländischen Einflusses“

Quelle: NDI-Umfrage, durchgeführt von CRRC Georgien, März 2023

Stimmen junger georgischer Emigrant*innen

Angesichts dieser Umfrageergebnisse ist es wenig überraschend, dass die Anzahl junger Menschen im Alter zwischen 15 und 34 Jahren, die das Land verlassen, in den letzten drei Jahren angestiegen ist und 2022 über 54.000 erreicht hat.

Tabelle 1: Anzahl der Emigrant*innen im Alter von 15 bis 34 Jahren in den letzten zehn Jahren

Quelle: Nationales Statistikbüro Georgiens, Daten von 2013-2022

Auch Daten aus qualitativen Interviews, die im Sommer 2023 in Berlin unter 30 jungen Emigrant*innen unterschiedlicher sozialökonomischer Hintergründe im Rahmen einer durch Georgiens Mobilitätsforschungsprogramm finanzierten und vom ZOiS betreuten Studie durchgeführt wurden, bestätigen ihre kritischen Einstellungen gegenüber der georgischen Regierung. Die Befragten gaben an, nicht nach Georgien zurückkehren zu wollen, solange die aktuelle, eher Russland als dem Westen zugeneigte Regierung an der Macht sei. Sie wollen, dass Georgien Teil Europas ist, und brachten zum Ausdruck, dass sie mit der aktuellen politischen Entwicklung nicht einverstanden seien. Viele von ihnen fühlen sich aber auch in der Verantwortung, etwas zur Entwicklung des Landes beizutragen.

„Ich denke, dass die Regierung prorussisch ist, womit ich nicht einverstanden bin, finde aber auch, dass die Regierung und das Volk nicht dasselbe sind. […] Ich möchte nicht jemand sein, der vor seinem Land weggerannt ist, der es dort nicht ausgehalten hat und einfach gegangen ist. Im Augenblick bin ich das, aber ich will nicht mein ganzes Leben lang wegrennen. Ich will ein Mitspracherecht haben [was die Entwicklung des Landes betrifft].“ (Frau, 26, lebt seit 2022 in Berlin)

Andererseits sind einige der Befragten der Meinung, dass die Mehrheit der Menschen in Georgien nicht so kritisch gegenüber der Regierung ist, wie sie es sein sollte. Trotz der offenkundig prorussischen Schritte der Regierung würden nicht genug Menschen gegen den russischen Einfluss protestieren. Die Befragten weisen darauf hin, dass die russische Propaganda im Allgemeinen sehr wirksam sei, dass die Menschen aber über das nötige Maß an Bildung verfügen sollten, um wirkliche Informationen von Desinformation zu unterscheiden. Sie behaupten, dass Georgien eindeutig von Russland und dessen Politik abhängig sei und individuelle Freiheiten verletzt würden.

“Es ist ziemlich offensichtlich, dass wir direkt von der russischen Politik abhängig sind, und das bedeutet, dass wir kein freies Land sind. Und wenn ein Land nicht frei ist, kann auch der Einzelne irgendwann nicht mehr frei sein. […] Freiheit ist mir so wichtig, dass ich sie nicht einmal um meiner Liebe zu Georgien willen aufgeben kann.“ (Mann, 22, lebt seit 2019 in Berlin)

Einige der jungen Emigrant*innen haben das Gefühl, eine Verantwortung dafür zu tragen, die gegenwärtigen Verhältnisse in Georgien zu verbessern, und glauben, dass sie dafür die Initiative ergreifen sollten. Beispielsweise würden sie sich gerne an der Regierung beteiligen, wenn sie wüssten, dass sie tatsächlich Veränderungen bewirken könnten.  

„Wenn ich jetzt sage, dass ich nicht zurückkehren werde, bis sich die Situation [in Georgien] zum Besseren verändert hat, von wem erwarte ich dann, die Veränderungen dort zu bewirken? Sollten diejenigen, die in Georgien zurückgeblieben sind, alles allein schultern, während ich hier [in Berlin] ein gutes Leben habe und meine Ausbildung erhalte? [In Wirklichkeit] bin ich es, der die Veränderung herbeiführen sollte.“ (Mann, 28, lebt seit 2022 in Berlin)

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass mehr als die Hälfte der jungen Menschen in Georgien der georgischen Regierung gegenüber kritisch eingestellt ist und die Anzahl an jungen Georgier*innen, die das Land verlassen haben, in den letzten drei Jahren gestiegen ist. Junge Emigrant*innen verfolgen aktiv die aktuellen Ereignisse in Georgien und sind mit der derzeitigen politischen Lage, die sie als antiwestlich betrachten, nicht einverstanden. Die meisten von ihnen möchten nicht für immer im Ausland bleiben und denken darüber nach, nach Georgien zurückzukehren. Allerdings stellen die politische Situation und der Verlust individueller Freiheit in Georgien für viele ein Hindernis dar. Auf der anderen Seite haben sie ein Gefühl der Verantwortung, Teil jener Veränderungen zu sein, die notwendig sind, damit Georgien auf einem europäischen Integrationskurs bleibt.


Dr. Tamar Khoshtaria ist Senior Researcher am Caucasus Research Ressource Center (CRRC) Georgien und Assistenzprofessorin an der Staatlichen Ilia-Universität in Tbilisi, Georgien.