Anti-Gender-Bewegung und die Situation von LGBTIQ* in Osteuropa
Im aktuellen Ranking der International Lesbian, Gay, Bisexual, Trans and Intersex Association, das die rechtlichen Standards für LGBTIQ*-Personen in 49 europäischen Ländern abbildet, stehen viele osteuropäische Länder am unteren Ende der Liste. In einigen Ländern, insbesondere in Russland, wird Homo- und Transsexualität als „Gender-Ideologie“ gebrandmarkt, die die verkommene westliche Welt und die Bedrohung der eigenen Werte symbolisiert. Am internationalen Tag gegen Homo-, Bi-, Inter- und Transphobie erklärt Regina Elsner, woher dieses Weltbild kommt und wie es aktuell instrumentalisiert wird.
Welche Rolle spielt die vom Kreml als Feindbild deklarierte sogenannte Gender-Ideologie im Krieg gegen die Ukraine?
Der Krieg gegen die Ukraine wird ideologisch als Verteidigung gegen feindliche Werte dargestellt. Was militärisch die NATO ist, ist ideologisch eine sehr vereinfachte Version von „dem Westen“, die stark von der Orthodoxie geprägt ist. Der Westen als Feindbild ist keine Erfindung des Kremls, sondern damit werden seit Jahrhunderten existierende Stereotype aufgenommen, die der Gesellschaft die kompliziert gewordene Welt mit altbekannten Bildern erklären wollen. Die „Gender-Ideologie“ passt da sehr gut rein: Gender wird – nicht nur in Russland – als Sammelbegriff für die gefühlte Bedrohung der bekannten Ordnung genutzt. Die Beschreibung als Ideologie erinnert ganz bewusst an den Marxismus und den Faschismus als große Ideologien, die Russland im 20. Jahrhundert beide besiegt hätte. Damit hat man in dieser Vorstellungswelt die Welt gerettet und damit erklärt sich auch, warum man das nun wieder tun muss.
Mit dieser Erzählung wird vor allem die gesellschaftliche Akzeptanz für den Krieg gegen die Ukraine gestärkt. Es erhöht die Glaubwürdigkeit des Kampfes in der Ukraine, wenn es nicht so sehr um Territorium, sondern um die Verteidigung der eigenen Ordnung geht. Die russische Regierung und die Leitung der Russischen Orthodoxen Kirche haben über viele Jahre die Bevölkerung darauf eingestimmt, dass die Vielfalt von sexueller Orientierung und geschlechtlicher Identität des Teufels sind, dass damit das russische Volk ausgerottet werden soll und die traditionelle Familie zerstört würde. Innenpolitisch wird damit seit 2013 die Verfolgung von LGBTIQ*-Personen und Menschenrechtsorganisationen begründet, seit 2023 gilt die „internationale LGBT-Bewegung“ als extremistische Organisation. Da diese feindliche, liberale Zivilisation in der Ukraine auf das Territorium der russischen orthodoxen Zivilisation eingedrungen ist, muss man sich gegen das metaphysische Böse nun auch mit Waffen wehren.
Wie ist die Entwicklung in Osteuropa in den internationalen Backlash in Bezug auf LGBTIQ*-Rechte einzuordnen?
Viele politische Eliten in Osteuropa haben erkannt, dass man aus der Anti-LGBTIQ*-Agenda national und international Kapital schlagen kann. Die allgemeine gesellschaftliche Verunsicherung nach der ersten Euphorie der europäischen Integrationsprozesse konnte mit der Idee des „Gayropa“ leicht für nationalistische oder konservative Stimmungen vereinnahmt werden. Die Situation von LGBTIQ*-Personen ist besonders in den EU-Beitrittskandidaten und den EU-kritischen Mitgliedsländern etwa in Ungarn und Polen besorgniserregend.
Die osteuropäischen Anti-Gender-Bewegungen sind eng mit der internationalen Bewegung vernetzt und werden von globalen rechtskatholischen Akteuren und rechten Parteien unterstützt. Internationale Partner nutzen wiederum die osteuropäischen Anti-LGBTIQ*-Strategien, wenn zum Beispiel der Vatikan mit dem Begriff der „Ideologie“ auf den Kampf gegen die großen Ideologien des 20. Jahrhunderts anspielt. Die katholische Kirche immunisiert sich gegen den Ruf nach einer größeren Akzeptanz von geschlechtlicher Vielfalt auch mit dem Verweis auf Osteuropa oder den globalen Süden – man könne nicht „vorpreschen“, um die Gläubigen in Osteuropa nicht zu überfordern, bzw. müsse einsehen, dass die Gleichstellungsbestrebungen ein Luxusproblem des Westens seien.
Russland gilt seit vielen Jahren als zentraler Akteur dieser internationalen Anti-LGBTIQ*-Netzwerke, sowohl in ideologischer als auch in finanzieller Hinsicht. Man hätte erwarten können, dass der Krieg diese Lage verändert. Selbst jene osteuropäischen Länder, die den Krieg und seine imperialistische Ideologie scharf verurteilen, stellen das russische Kriegsargument, man müsse sich gegen Gender und LGBTIQ* verteidigen, gar nicht in Frage. Sie nutzen die gleichen Argumente wie Russland im Kampf gegen LGBTIQ*-Rechte. Das heißt, dass man diese ideologische Dimension nicht ernst nimmt, aber damit auch unterschätzt, wie sehr die internationale Queerfeindlichkeit Russland das Gefühl gibt, Verbündete in seinem Kampf zu haben. Man muss auch davon ausgehen, dass Russland weiterhin Teile der Anti-LGBTIQ*-Initiativen in Europa finanziell unterstützt.
Die Ukraine bemüht sich insbesondere seit dem Angriff Russlands um eine Mitgliedschaft in der EU. Welche Anstrengungen unternimmt die Regierung, europäische Werte im Hinblick auf die LGBTIQ*-Community zu stärken und mit welchem Erfolg?
Die gesellschaftliche Akzeptanz für LGBTIQ* ist in der Ukraine in den vergangenen Jahren gewachsen, allerdings ist es noch zu früh, von einer wirklich toleranten Einstellung zu sprechen. Es fehlen etwa nach wie vor ein gesetzlicher Schutz vor Hassrede und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, Selbstbestimmungsgesetze und vor allem auch ein Schutz für Trans-Personen angesichts der Mobilmachung und den Ausreisebeschränkungen für Männer.
Gegen eine größere Anerkennung von LGBTIQ*-Personen arbeiten auch hier vor allem die Kirchen, die katholischen, protestantischen und orthodoxen. Die religionsneutrale Politik der Regierung Selenskyj hatte einen sehr positiven Effekt – man stieß Diskussionen an und förderte NGOs im Bereich der gesellschaftlichen Vielfalt, ohne den Kirchen einen privilegierten Einfluss zu geben. Die Istanbul-Konvention gegen häusliche Gewalt und Gewalt gegen Frauen wurde trotz des kirchlichen Drucks 2022 ratifiziert, und die Diskussion um die Legalisierung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften wird erstmals ernsthaft und öffentlich geführt.
Bemerkenswert ist die große Sichtbarkeit von queeren Menschen in den ukrainischen Streitkräften. Im Frühjahr 2024 gab es einen symbolischen Zwischenfall: Der greise Patriarch Filaret (Denysenko) von Kyjiw zeichnete Soldat*innen mit einem Orden für ihre Dienste für das Vaterland aus. Als er erfuhr, dass einer von ihnen offen schwul ist, zog er den Orden zurück. Daraufhin gaben mehrere Menschen, die den Orden auch bekommen hatte, diesen als Zeichen ihrer Solidarität mit dem Soldaten zurück. Das zeigt die wachsende gesellschaftliche Akzeptanz, die vor allem auf die unaufgeregte politische Diskussion, aber auch auf die aggressive Kriegsbegründung Russlands mit Gender-Themen zurückgeführt werden kann – man will auf keinen Fall mehr Teil dieser menschenfeindlichen Ideologie sein.