Gewaltausbruch zwischen Armenien und Aserbaidschan
Mit den heftigsten Gefechten an der armenisch-aserbaidschanischen Grenze in den letzten zwei Jahren ist der Konflikt zwischen beiden Ländern erneut eskaliert. Die Angriffe betrafen nicht das seit Jahren umkämpfte Gebiet Bergkarabach, sondern vornehmlich Grenzgebiete im Südosten Armeniens. Trotz eines Waffenstillstands bleibt die Lage angespannt. Nadja Douglas erklärt, was das bedeutet.
Lässt sich sagen, warum sich die Führung Aserbaidschans zu den Angriffen entschlossen hat? Geht es um Bergkarabach?
Punkt 9 des Waffenstillstandsabkommens vom 9./10. November 2020 sieht unter anderem vor, dass zwischen den westlichen Regionen der Republik Aserbaidschan und der zu Aserbaidschan gehörenden Autonomen Republik Nachitschewan ein Korridor geschaffen werden soll, der die Bewegungsfreiheit von Menschen, Fahrzeugen und Fracht in beide Richtungen ermöglicht. Zum Zwecke der Umsetzung dieses Punktes wurde im Januar 2021 eine trilaterale Arbeitsgruppe, bestehend aus den Konfliktparteien und Russland, gebildet. Diese Gruppe hat sich bislang zehn Mal getroffen und sich dabei zumindest auf eine zukünftige Wiederaufnahme von ehemaligen, teils noch sowjetischen Bahnverbindungen geeinigt. Obwohl es im Rahmen dieser Arbeitsgruppe nicht diskutiert wurde, lag Aserbaidschans eigentliches Interesse in den Plänen eines als „Zangezur Korridor“ bezeichneten Transportwegs, der durch die armenische Provinz Sjunik verlaufen soll. Armenien hat sich bislang verwehrt, diesen Punkt überhaupt auf die Tagesordnung setzen zu lassen. Es verdächtigt Aserbaidschan, geopolitische Ambitionen unter dem Deckmantel der „Konnektivität“ zu verfolgen. Der Zeitpunkt für den Beginn der Gefechte ist nicht zufällig. Russland erleidet derzeit enorme Verluste in der Ukraine, ist allgemein geschwächt und abgelenkt. Außerdem fühlt sich Aserbaidschan mittlerweile ziemlich selbstsicher: Russland hat sich von neuen Transitrouten durch Aserbaidschan und die EU energiepolitisch von Aserbaidschan abhängig gemacht. Nun möchte die aserbaidschanische Führung, unterstützt von der Türkei, mit militärischen Mitteln etwas erreichen, das ihr auf diplomatischem Weg unmöglich erscheint.
Im Konflikt um Bergkarabach tritt Russland als Unterstützer Armeniens und als Vermittler auf. Wirkt sich Russlands Krieg gegen die Ukraine hier aus?
Wie bereits erwähnt, ist Russland in der Ukraine militärisch gerade sehr eingebunden, kann also die volle Aufmerksamkeit nicht der Bergkarabach-Krise bzw. armenisch-aserbaidschanischen Feindseligkeiten widmen. Bereits im August dieses Jahrs gab es Ausbrüche von Gewalt in Bergkarabach selbst. Die Menschen vor Ort fühlten sich von den russischen Friedenstruppen alleingelassen und schutzlos gegenüber aserbaidschanischen Drohnenangriffen. Es gab vereinzelt erstmals Proteste gegen die russische Militärpräsenz in Stepanakert, für die es sonst in der armenischen Gesamtbevölkerung einhellige Zustimmung gibt. Die Friedenstruppen gerieten in der armenischen Öffentlichkeit immer mehr in Kritik, so dass sich schließlich auch Präsident Paschinjan ungewöhnlich scharf äußerte und auf die vielen Verletzungen des Waffenstillstandsabkommens hinwies, dessen Einhaltung die russischen Streitkräfte überwachen sollen. Hinzu kommt, dass die armenische Regierung im Kontext der jüngsten Angriffe erneut um Beistand der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) gebeten hat und, wie bereits während des 44-Tage-Krieges 2020, eine Absage bekommen hat. Es wurde lediglich eine Fact-Finding-Mission durch den Generalsekretär der Organisation zugesagt.
In Armenien wird im Rahmen von Protesten der Austritt aus der OVKS (englisch CSTO) gefordert. Welche Rolle spielt das Militärbündnis?
Die oben genannten Gründe verdeutlichen, warum es Unmut in der armenischen Bevölkerung gegenüber der OVKS gibt. Doch Armenien ist in der verzwickten Lage, dass es keine Alternative zum militärischen Bündnispartner Russland und der von Russland geführten Militärallianz hat. Die EU, mit der Armenien ein Partnerschaftsabkommen samt vertiefter Handelsbeziehungen unterhält, ist zwar bereit, eine vermittelnde Rolle in dem Konflikt einzunehmen (aktive Rolle des Präsidenten des Europäischen Rates, Charles Michel, in den letzten Monaten), lehnt jedoch ein militärisches Engagement in der Region ab.
Dieser Text wurde am 20.9.2022 aktualisert.