Expert*innenstimme

US-Präsident Biden erkennt Massaker an Armenier*innen als Völkermord an

Von Tsypylma Darieva 27.04.2021

Während des Ersten Weltkriegs wurden im Osmanischen Reich hunderttausende Armenier*innen vertrieben und getötet. Zum alljährlichen Gedenktag am 24. April hat US-Präsident Joe Biden diese Taten offiziell als Völkermord anerkannt. ZOiS-Wissenschaftlerin Tsypylma Darieva ordnet den Schritt für uns ein.

US-Präsident Biden hat anlässlich des Gedenktages den Völkermord an den Armenier*innen offiziell anerkannt. Warum hat dieser Schritt zum jetzigen Zeitpunkt für so viel Aufsehen gesorgt?

Joe Biden hat in seinem Wahlkampf 2020 den zahlreichen armenisch-amerikanischen Diasporagemeinschaften versprochen, diesen Schritt zu gehen. Außerdem hat das US-Repräsentantenhaus bereits mit überwältigender Mehrheit die Massentötung von Armenier*innen im Osmanischen Reich während des Ersten Weltkriegs als Völkermord eingestuft. Joe Biden ist nun der erste US-amerikanische Präsident, der das Massaker an den Armenier*innen als Völkermord öffentlich anerkannt hat. Seine Amtsvorgänger vermieden es hingegen, den Begriff „Genozid“ zu verwenden, um den Beziehungen zur Türkei, einem wichtigen NATO-Verbündeten, nicht zu schaden. Bidens Entscheidung fällt nun in eine Zeit, in der sich die Beziehungen der USA zur Türkei deutlich verschlechtert haben. Der Schritt soll Ankara ein Warnsignal geben, seine Politik in Syrien und in Nahost sowie den Konflikt mit Griechenland um Rohstoffvorkommen im Mittelmeer zu überdenken. 

Welche Rolle spielt die armenische Diaspora bei dieser Entscheidung?

Die traumatischen Erinnerungen an die Massaker und Vertreibung sind über Generationen zu einem festen Bestandteil der armenischen Identität in der Diaspora geworden und werden in der amerikanischen Öffentlichkeit verstärkt wahrgenommen. Die armenische Diaspora ist eine einflussreiche, finanzkräftige und bis zum Repräsentantenhaus gut vernetzte Gemeinschaft mit einem hohem Mobilisierungspotenzial, das nicht zu unterschätzen ist. Die Mobilisierung der armenischen Diaspora findet inmitten einer emotionalen Krise statt: dem für Armenien verlustreichen Ausgang des Berg-Karabach-Konfliktes mit Aserbaidschan im Herbst 2020. Dennoch wäre es übertrieben zu behaupten, dass Joe Biden seine Entscheidung nur unter dem Druck dieser Gemeinschaft getroffen habe. Der geopolitische Kontext spielt hier eine wichtige Rolle. 

Welche Bedeutung hat die Anerkennung vor dem Hintergrund des Nagorny-Karabach-Konflikts?

Erwartungsgemäß hat Bidens Aussage in Aserbaidschan eine ähnliche negative Reaktion wie in der Türkei hervorgerufen, da beide Länder einander eng verbunden sind und die Türkei im Nagorny-Karabach-Konflikt Aserbaidschan entscheidend militärisch unterstützt hat. Für die Republik Armenien bedeutet es in der Zeit der Krise moralische Unterstützung und emotionale Energie, was die Möglichkeit für einen größeren Handlungsraum der Außenpolitik Armeniens geben kann. Die zahlreichen armenischen Diasporagemeinschaften werden die Republik Armenien weiter moralisch und finanziell unterstützen, aber keinen Einfluss auf die Beilegung des Konflikts nehmen können. 

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