Expert*innenstimme

Verschärftes Erinnerungsgesetz in Russland

Von Félix Krawatzek 10.06.2021

Am 9. Juni hat die russische Staatsduma den Entwurf für einen Zusatz zu einem Gesetz angenommen, der es in Zukunft unter Strafe stellen wird, die Sowjetunion mit NS-Deutschland zu vergleichen. Darüber hinaus wird es verboten, die „entscheidende Rolle der Sowjetunion beim Sieg über NS-Deutschland“ zu leugnen. Félix Krawatzek forscht am ZOiS über die Verbreitung von Erinnerungsgesetzen in Europa und ordnet den Schritt für uns ein.

Inwiefern verschärft der neue Zusatz die bisherige Gesetzgebung zu diesem Thema in Russland?

Das neue Gesetz wurde auf Weisung des russischen Präsidenten angenommen und ergänzt die bereits bestehenden juristischen Einschränkungen der Presse- und Meinungsfreiheit zum Thema Geschichte in Russland.
Das Strafmaß ist im neuen Gesetz noch nicht festgesetzt, aber durch eine Gesetzesänderung aus dem Jahr 2014 ist es bereits möglich, nicht-konforme geschichtliche Aussagen mit einer Geldstrafe von bis zu 300.000 Rubel sowie einer maximalen Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren zu belegen. Und auch die im Frühjahr 2020 abgeänderte russische Verfassung beinhaltet eine ähnliche Vorschrift in Form von Artikel 67.1, der festlegt, dass „die Verteidiger des Vaterlandes“ zu ehren seien und der Staat „den Schutz der historischen Wahrheit“ sichert.

Welche Rolle spielt die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg heute in Russland?

Das Gesetz verdeutlicht nochmals, dass der russische Staat mit allen Mitteln versucht, die offizielle heldenhafte Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg als einzige sagbare Perspektive zu verankern. Das neue Gesetz zielt explizit auch auf die Verbreitung von nicht-konformen historischen Informationen im Internet ab, schränkt also die digitale Meinungsfreiheit weiter ein. Jedoch wurden bereits in der Vergangenheit nicht-konforme geschichtliche Aussagen aus den sozialen Medien bestraft, beispielsweise Vladimir Luzgin, der auf dem russischen sozialen Netzwerk vk.com einen Artikel teilte, der eine sowjetische Mitverantwortung für den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs suggerierte. Teile der Bevölkerung begrüßen jedoch eine derartige Regulierung von Geschichte. Eine im Januar 2021 von mir durchgeführte Erhebung fragte explizit nach einem hypothetischen Fall, der Luzgin nachempfunden war. Vierzig Prozent der Befragten empfanden eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren als angemessen und sieben Prozent gaben sogar an, dass die Strafe hätte höher ausfallen müssen.

Gibt es ähnliche Entwicklungen in anderen Ländern Ostmitteleuropas und des postsowjetischen Raums?

Russland ist kein Einzelfall und Erinnerungskriege werden insbesondere im Dreieck Polen-Ukraine-Russland auch per Gesetz ausgetragen. 2018 ergänzte Polen beispielsweise das Gesetz über das Institut des Nationalen Gedenkens aus dem Jahre 1998, wodurch es strafbar wurde, Polen einer Komplizenschaft am Holocaust zu beschuldigen und von „polnischen Todeslagern“ zu sprechen. In der Ukraine sind ein Quartett an „Dekommunisierungsgesetzen“ aus dem Jahr 2015 zentral. Dieses Paket schreibt unter anderem die Erinnerung an verschiedene ukrainische Partisanengruppen als Freiheitskämpfer fest und verbietet die Produktion und Verbreitung von Symbolen, die mit der Nazi- und Sowjetzeit in Verbindung stehen. Hier ist eine Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren vorgesehen. All diese strafenden Erinnerungsgesetze haben den Zweck, die offizielle Erinnerung des Staates konkurrenzlos werden zu lassen und sind eine maßgebliche Einschränkung von Grundrechten.

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