Vor dem „Tag des Sieges“ in Russland
Am 9. Mai wird in Russland traditionell der sowjetische Sieg über Nazi-Deutschland im Zweiten Weltkrieg gefeiert. Wir haben ZOiS-Wissenschaftler Félix Krawatzek gefragt, warum das Datum für Putins Regime so zentral geworden ist und welche Rolle der „Tag des Sieges“ im Zusammenhang mit dem Krieg gegen die Ukraine spielt.
Wie kam es zur heutigen Bedeutung des „Tags des Sieges“ in Russland?
Für den Kreml ist der „Tag des Sieges“ der Dreh- und Angelpunkt im russischen Feiertagskalender. Die jetzige Zentralität ist insbesondere mit dem Beginn der dritten Amtszeit Wladimir Putins zu verbinden. Seither bietet dieser Tag verstärkt einen Anlass, um ein emotional hochaufgeladenes anti-westliches und auf Russland konzentriertes Geschichtsnarrativ zu verbreiten. Um die offizielle Sichtweise auf Geschichte zu schützen, geht der Staat mittlerweile nach dem Prinzip Zuckerbrot und Peitsche vor: Es gibt Museen mit einer patriotisch affirmativen Ausrichtung, wie beispielsweise "Russland – meine Geschichte" oder die 2012 gegründete Russische Militärhistorische Gesellschaft, die auch zum Ziel hat, „Geschichtsverzerrungen“ entgegenzuwirken und „Patriotismus zu fördern und das Prestige des Militärdienstes zu erhöhen“. Gleichzeitig wird der rechtliche Rahmen für die öffentliche Auseinandersetzung mit Geschichte immer enger. Diese Tendenz hat sich mit der Verfassungsänderung aus dem Jahr 2020 weiter verstärkt.
Wie wird der Krieg in der Ukraine mit dem Datum verknüpft?
Die Wörter, die in Russland verwendet werden, um über den Krieg in der Ukraine zu sprechen, stellen häufig einen Bezug zum Zweiten Weltkrieg her. Die sogenannte „spezielle militärische Operation“ wurde von Beginn an als eine Fortführung des Kampfs gegen den deutschen Faschismus gefasst. Insofern ist in diesem Jahr auch zum 9. Mai von einer starken Verknüpfung mit dem Krieg in der Ukraine auszugehen. Es wäre wenig überraschend, wenn die als heldenhaft erinnerte Befreiung Europas in Putins Rede mit der Mission verbunden wird, den gegenwärtigen Krieg in der Ukraine trotz aller Kosten fortführen zu müssen. Darüber hinaus ist zu befürchten, dass mit Verweis auf die großen militärischen und zivilen Opfer während des „Großen Vaterländischen Kriegs“ die russische Bevölkerung auf eine lange Schlacht in der Ukraine eingeschworen wird und eine gesamtgesellschaftliche Anstrengung oder gar Mobilmachung gefordert wird.
Ukrainerinnen und Ukrainer kämpften im Zweiten Weltkrieg ebenfalls in der Roten Armee, machten einen großen Anteil an Gefallenen und zivilen Opfern aus. Wie blickt man in der Ukraine auf den 9. Mai?
In der Ukraine wird die sowjetische Geschichte wesentlich kritischer gesehen. Eine von mir durchgeführte Umfrage konnte aufzeigen, dass 80 Prozent der Befragten in Russland angeben, dass allein Nazideutschland für den Ausbruch des Krieges verantwortlich war, wohingegen in der Ukraine nur die Hälfte der Bevölkerung diese Ansicht teilt, während die andere Hälfte angibt, dass es sowohl Nazideutschland als auch die Sowjetunion waren. Ähnlich verhält es sich mit den Ansichten darüber, wer den wichtigsten Beitrag zum Sieg geleistet hat. In der Ukraine gibt eine knappe Mehrheit an, dass es die Sowjetunion mit Unterstützung der Alliierten war, wohingegen in Russland 70 Prozent angeben, dass sich der Sieg allein der Sowjetunion verdankt.