Pressemitteilung

Ein liberaler Exodus? Report zeigt große politische Unterschiede bei russischen Migrant*innen auf

12.09.2024
Die russische Buchhandlung und Kulturstätte Poltory Komnaty (Anderthalb Zimmer) in Istanbul mit einem Graffito von Joseph Brodsky. Félix Krawatzek

Der Krieg ihres Landes gegen die Ukraine veranlasste Hunderttausende, Russland zu verlassen. Ein neuer ZOiS Report, der sich auf persönliche Umfragen unter russischen Migrant*innen in fünf verschiedenen Ländern stützt, gibt Einblicke in die Bandbreite der politischen Ansichten und sozioökonomischen Profile.

Von den schätzungsweise 800.000 bis 900.000 russischen Bürger*innen, die ihr Land in den Monaten nach der vollumfängliche Invasion Russlands in die Ukraine im Februar 2022 verlassen haben, sind gegenwärtig etwa 650.000 im Ausland geblieben. Es besteht die Tendenz, diese Migrant*innen als eine potenzielle Opposition im Exil zu betrachten. Doch während ein beträchtlicher Teil derer, die Russland unmittelbar nach der Invasion verlassen haben, durchaus als Kriegs- und Kremlgegner eingestuft werden kann, trifft dies auf die nachfolgenden Migrationswellen weit weniger zu. Unklar ist auch, ob die eher oppositionell eingestellten russischen Migrant*innen in ihren Gastländern politisch aktiv bleiben werden. Ein neuer ZOiS Report von Félix Krawatzek und Gwendolyn Sasse wirft einen genaueren Blick auf die politischen Einstellungen der neuen russischen Migrant*innen und konzentriert sich dabei auf fünf der wichtigsten Zielländer: Armenien, Georgien, Türkei, Kasachstan und Kirgistan. Dabei stützt sich die Studie auf persönliche Befragungen von 4.300 Migrant*innen, die im Sommer 2023 in den fünf Ländern durchgeführt wurden. Die Ergebnisse zeigen, welche enorme Bandbreite sie hinsichtlich ihrer politischen Ansichten und sozioökonomischen Profile aufweisen. Wie Félix Krawatzek betont, sind die neuen russischen Migranten „eher nicht als eine einheitliche Gruppe zu betrachten, schon gar nicht im Sinne eines großen liberalen Exodus“. Auch wenn die einzelnen Länder auf der Grundlage der Daten nicht direkt miteinander vergleichbar sind, zeigt der Bericht doch wichtige Trends innerhalb und zwischen den untersuchten Ländern auf. Da die Autor*innen auch einige Mitglieder der länger etablierten russischen Communitys in ihre Erhebungen einbeziehen, sind sie in der Lage, alte und neue Migrant*innen gegenüberzustellen.

Georgien und Armenien – unterschiedliche Kontexte für die politische Mobilisierung

Sowohl Georgien als auch Armenien zogen einen hohen Anteil junger und gebildeter russischer Migrant*innen an, von denen viele aus St. Petersburg und Moskau stammen und im IT-Sektor arbeiten. Eine beträchtliche Anzahl von ihnen hat in Russland an Protesten teilgenommen. In Armenien ist eine Mehrheit der Befragten der Meinung, dass russische Bürger*innen im Ausland gegen ihre Regierung protestieren sollten. Auch in Georgien hat eine deutliche Mehrheit der Befragten eine negative Meinung vom russischen Präsidenten und der russischen Armee und sieht die Schuld am Krieg bei Russland. In beiden Ländern sind die Migrant*innen in hohem Maß politisiert. Für die Entscheidung, ob sie politisch aktiv bleiben, ist das Umfeld sehr wichtig, wie der Report unterstreicht. Aus historischen Gründen steht man in Georgien der russischen Migration generell ablehnend gegenüber. Einige Einheimische nehmen den neuen Migrant*innen außerdem übel, dass sie die Inflation in die Höhe treiben. Ironischerweise teilen viele russische Migrant*innen zwar die antirussische Haltung, die in der georgischen Gesellschaft vorherrscht, gleichzeitig macht diese gegenseitige Entfremdung gemeinsame Aktionen aber unwahrscheinlich. Armenien bietet momentan im Vergleich ein günstigeres Umfeld für politische Aktionen, die sich auf Russland richten.

Schuldzuweisungen für den Krieg gegen die Ukraine: ein Barometer für die politische Einstellung der Migrant*innen

Die Vielfalt der politischen Meinungen unter den Russ*innen in der Türkei ist bemerkenswert. Dabei gibt es jedoch eine ausgeprägte kremlfreundliche Tendenz. Ein beträchtlicher Anteil der Befragten äußert positive Ansichten über den russischen Präsidenten und macht die Ukraine und westliche Institutionen für den Krieg in der Ukraine verantwortlich. Die Mehrheit der neuen russischen Migrant*innen in Kasachstan scheint politisch mit dem Mainstream der russischen Gesellschaft übereinzustimmen. Auch hier wird die Schuld für den Krieg eher den USA und der Ukraine als Russland zugeschrieben. Die russischen Migrant*innen in Kirgistan scheinen recht politisiert zu sein, wobei die Mehrheit über Erfahrungen mit Protesten in Russland berichtet. Auf die Frage, wen sie für den Krieg verantwortlich machen, wählte der größte Teil der Befragten (50 Prozent) die Antwort „Russland“. Die Autor*innen des Berichts weisen auf die Bedeutung ihrer Ergebnisse im Hinblick auf die Unterstützung der politischen Opposition außerhalb Russlands hin. Sowohl alte als auch neue russische Migrant*innen sind nach wie vor ein Hauptziel der Kreml-Propaganda und sind wahrscheinlich immer noch in das russische Medienumfeld eingebunden. Unter diesen Umständen argumentiert Gwendolyn Sasse, dass es klug wäre, „mehr in alternative russischsprachige Medien und in Bemühungen zu investieren, Verbindungen zwischen Migrant*innen in verschiedenen Ländern herzustellen“.


Veröffentlichung: Félix Krawatzek and Gwendolyn Sasse: The Political Diversity of the New Migration from Russia since February 2022, ZOiS Report 4/2024.

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