Expertenstimmen: Proteste in Belarus nach der Präsidentschaftswahl
Seit der Präsidentschaftswahl in Belarus gehen Menschen im ganzen Land gegen Lukaschenkas Regime auf die Straße. Trotz Polizeigewalt und zahlreichen Verhaftungen weiteten sich die Proteste und Solidaritätsbekundungen in der Bevölkerung aus. Wissenschaftler*innen aus dem ZOiS geben vor dem Hintergrund ihrer Forschung eine Einschätzung zur aktuellen Situation.
Letzte Stützpfeiler des Regimes
„Ein autoritäres System bricht zusammen, wenn die Eliten in zentralen staatlichen Institutionen den Befehlen des Machthabers nicht mehr folgen. Die Polizei und das Militär sind die einzigen verbleibenden Stützpfeiler des Lukaschenka-Regimes. Die Loyalität der Polizei zeigt bereits Risse; ob das Militär zum Einsatz kommt ist noch ungewiss.“
„Lukaschenka hat Putin explizit um Hilfe gebeten, doch der Preis eines Eingreifens scheint Putin zu hoch zu sein. Damit erinnert die jetzige Situation eher an Armenien 2008 als an die Ukraine 2014.“
Prof. Dr. Gwendolyn Sasse, wissenschaftliche Direktorin
Hoffnung auf Wandel
„Die diesjährige Präsidentschaftswahl in Belarus hat der gesamten Welt verdeutlicht, dass die Menschen im Land ihre politische Stimme entdeckt und dabei auch ein stärkeres Bewusstsein für ihre nationale Identität entwickelt haben. Jugendliche waren besonders früh und lautstark an oppositionellen Kundgebungen und Protesten beteiligt, aber dieser Aktivismus umfasst mittlerweile breite Teile der Bevölkerung. Dadurch ist eine in den letzten Jahrzehnten nie dagewesene Hoffnung auf politischen und gesellschaftlichen Wandel entstanden. Auch wenn sich die Stimmung unglaublich schnell entwickelt – allein letzte Woche schwankte sie zwischen Verzweiflung, Angst, Widerstandswillen und Euphorie – für junge Menschen bleiben die jetzigen Wochen prägend. Egal, ob die aktuellen Ereignisse auf der Straße, in den sozialen Medien, durch Gespräche im Freundeskreis oder aus dem Ausland verfolgt wurden.“
Dr. Félix Krawatzek, Leiter des Forschungsschwerpunktes Jugend in Osteuropa
Kluft zwischen Kirchenleitung und engagierten Gläubigen
„Die Haltung der Belarussischen Orthodoxen Kirche während der Proteste in Belarus wirft ein bezeichnendes Licht auf die Lage der Orthodoxie im postsowjetischen Raum. Die Kirchenleitung in Moskau und in Minsk gratulierte Lukaschenka schnell zum Wahlsieg und dankte ihm für die guten Beziehungen zwischen Staat und Kirche und die Unterstützung "geistlich-moralischer Werte". Das wirkte vor dem Hintergrund der bereits stattfindenden massiven Polizeigewalt gegen die friedlichen Proteste geradezu zynisch. Gleichzeitig wuchsen die Stimmen orthodoxer Gläubiger und Priester und sogar von einzelnen Bischöfen, die sich aus ihrem Glauben heraus mit den Protesten solidarisieren, ein Ende der Gewalt und Wahrheit über die Wahlergebnisse fordern und konkret Verletze und Gefangene medizinisch und materiell versorgen.“
„Da der Kirchenleitung jegliches Verständnis für den Umgang mit einer freien Gesellschaft fehlt und Protest pauschal als für die Kirche unzulässige politische Aktivität abgelehnt wird, wächst die Kluft zwischen den engagierten Gläubigen vor Ort und der Hierarchie. Diese brisante Situation wird von der Tatsache verschärft, dass angesichts der politischen Verstrickungen mit Moskau auch Forderungen nach einer größeren kirchlichen Unabhängigkeit von der Moskauer Kirchenleitung aufkommen, die an die Situation in der Ukraine erinnern. Dass der Metropolit von Minsk inzwischen in ein direktes Gespräch mit Gläubigen gegangen ist, zeigt - trotz seiner ausweichenden Antworten – ein erwachendes Bewusstsein dafür, dass die Kirchenleitung durch die blinde Loyalität mit dem autoritären Staat ihre Glaubwürdigkeit und ihre Gläubigen riskiert.“
Dr. Regina Elsner, wissenschaftliche Mitarbeiterin
Einfluss des Sicherheitsapparates sollte nicht unterschätzt werden
"Die zentralen Stabilitätsanker des belarussischen Regimes sind ins Wanken geraten. Während das Vertrauen breiter Bevölkerungsschichten in den Staat und Präsident Lukaschenkas Wohlstandsversprechen schon seit einigen Jahren massiv zurückgegangen ist, scheint jetzt infolge der Repressionen und brutalen Polizeigewalt auch die Loyalität der Staatsfunktionäre und -angestellten zu schwinden. Durch die Mobilisierung des Sicherheitsapparates versuchte die autoritäre Führung des Landes die Situation nach den Wahlen wieder in den Griff zu bekommen. Dieser Versuch scheint gescheitert. Dennoch sollte die Bedeutung und Einfluss dieses Apparates nicht unterschätzt werden. Auch die wirtschaftlichen Folgen für die Menschen infolge eines möglichen Kollaps der Staatsbetriebe ist bisher kaum absehbar."
Dr. Nadja Douglas, wissenschaftliche Mitarbeiterin (ergänzt am 21.8.2020)
Die Wissenschaftler*innen des ZOiS stehen Ihnen gern für Interviews zur Verfügung. Sie erreichen sie über die Pressestelle des ZOiS, telefonisch unter +49 (30) 2005949-20 oder per Mail an presse(at)zois-berlin(dot)de.
Hintergründe und Einschätzungen zur Situation in Belarus finden Sie außerdem gebündelt auf unserer Themenseite „Election in Belarus“.