Pressemitteilung

Politisierung in Belarus beschränkt sich nicht auf die Proteste

25.03.2021

Über die öffentliche Meinung in Belarus ist noch relativ wenig bekannt. Da die Proteste weiterhin unterdrückt werden, wird es noch wichtiger, gesellschaftliche Einstellungen und Haltungen zu verstehen. Ein neuer ZOiS Report präsentiert die Ergebnisse einer der ersten großen Erhebungen in Belarus seit Beginn der Massenproteste im vergangenen August.

Die Umfrage, die im Dezember 2020 unter Belarus*innen im Alter von 16 bis 64 Jahren durchgeführt wurde, offenbart seltene Einblicke zur politischen und sozialen Stimmung im Land, zum Vertrauen in Institutionen, zu Dynamiken der aktuellen politischen Mobilisierung und zu innen- und außenpolitischen Präferenzen der belarusischen Bürger*innen.

Das tatsächliche Ergebnis der angefochtenen Wahl, welche die massiven Proteste seit August 2020 auslöste, wird vermutlich nie bekannt werden. In der ZOiS-Umfrage gaben etwa 53 Prozent derjenigen, die gewählt haben, an, dass sie sich für Swjatlana  Zichanouskaja entschieden hatten, etwa 18 Prozent nannten Aljaksandr Lukaschenka. Die Umfrageergbenisse zeigen, dass 65 Prozent der Befragten teilweise oder vollständig der Aussage zustimmen, dass das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen 2020 zugunsten des Amtsinhabers gefälscht worden sei.

Protestbeteiligung, Ansichten zum Protest und politisches Interesse

Etwa 14 Prozent der Befragten nahmen an den Protesten nach der Wahl teil (Abbildung 1). „Dieses Niveau der Beteiligung ist bemerkenswert im Vergleich zu früheren Mobilisierungen“, stellen die Autor*innen fest. Die Politisierung der Bevölkerung geht jedoch über die Teilnahme an den Protesten hinaus: Fast die Hälfte der Befragten kennt persönlich jemanden, der an den Protesten teilgenommen hat und fast 60 Prozent gaben an, dass sie sich seitdem stärker für Politik interessieren. Die Meinungen zu den Protesten in der Bevölkerung sind vielfältig und reichen von Zustimmung bis hin zu Ablehnung; ein beträchtlicher Anteil der Befragten äußerte keine Meinung zu den Demonstrationen (Abbildung 2).

Der meistgenannte Grund für die Teilnahme an den Protesten ist die massive Gewalt gegen Demonstrierende. „Daran wird deutlich, dass Repression im Zeitalter der sozialen Medien eine riskante Strategie für ein autokratisches Regime ist, denn die Verbreitung von Bildern der Gewalt bringt noch mehr Menschen dazu, auf die Straße zu gehen; nicht zuletzt die Eltern und Großeltern der anfänglich Verletzten und Verhafteten“, heißt es im ZOiS Report.

Die Daten vermitteln, dass die Menschen hohe Erwartungen an konkrete politische Veränderungen wie zum Beispiel „Neuwahlen“ haben. Zu den Dingen, die die Befragten von jeder neuen politischen Führung erwarten, gehören politische Partizipation („den Bürger*innen eine Stimme im politischen Prozess geben“) und wirtschaftliche Prioritäten, vor allem die Verbesserung des Lebensstandards und die Schaffung von Arbeitsplätzen (Abbildung 3).

Demokratie und geopolitische Orientierung

Sowohl in ihrem Demokratieverständnis als auch in ihrer geopolitischen Orientierung unterscheiden sich Demonstrant*innen von Nicht-Demonstrant*innen wie auch Zichanouskaja- von Lukaschenka-Unterstützerinnen. Demonstrant*innen, diejenigen, die Zichanouskaja vertrauen und diejenigen, deren politisches Interesse sich infolge der Entwicklungen seit August 2020 verstärkt hat, bevorzugen engere Beziehungen zur EU – jedoch ohne Mitgliedsbestrebungen – und enge Handelsbeziehungen mit Russland, jedoch ohne politische Integration.

Die Umfrage bildet ab, wie stark sich die Gesellschaft über die Teilnahme an den Protesten hinaus politisiert hat. Das zeigt sich auch in den Mustern des Nachrichtenkonsums. Mehr als 70 Prozent der Befragten gaben an, dass sie den Großteil ihrer Informationen aus sozialen Medien und von Online-Medienplattformen beziehen. Nur etwa 10 Prozent nannten staatliche Medien als Hauptinformationsquelle. „Hierin ensteht der mittelfristige Druck auf das Lukaschenka-Regime“, schlussfolgern die Autor*innen, „selbst wenn die Proteste in den kommenden Monaten nicht wieder an Stärke gewinnen.“

Publikation

Nadja Douglas, Regina Elsner, Félix Krawatzek, Julia Langbein, Gwendolyn Sasse: ‘Belarus at a crossroads: attitudes on social and political change’, ZOiS Report 3 / 2021

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