Wie die belarussische Gesellschaft das Vertrauen in die Staatsführung verlor
Seit der Präsidentschaftswahl erlebt Belarus eine nie gekannte Protestwelle. In einem neuen ZOiS Report untersucht Nadja Douglas die Ursachen dieses fundamentalen Zusammenbruchs der Beziehungen von Staat und Gesellschaft. Dabei zeigt sie, wie sich Belarus von einem Wohlfahrtsstaat in einen Staat gewandelt hat, der sich vor allem um die innere Sicherheit sorgt.
Die Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft in Belarus sind seit vielen Jahren angespannt. Mit der Präsidentschaftswahl im August 2020 und dem Sonderweg im Umgang mit der Corona-Pandemie ist die ohnehin schon fragile Beziehung nun endgültig zerrüttet. „Das Vertrauensverhältnis zwischen Staat und Bürgern erodierte und brach schließlich zusammen – zum einen, weil sich der belarussische Wohlfahrtsstaat in den letzten Jahren zunehmend entzauberte; zum anderen, weil sich den Bürger*innen im ganzen Land ein brutaler Polizeistaat entgegenstellte“, erklärt Nadja Douglas, die Autorin des Reports.
Der Wohlfahrtsstaat hält nicht, was er verspricht
Das belarussische Modell, demzufolge ökonomische Stabilität und Sicherheit fehlende politische Mitbestimmung kompensieren sollen, ist zunehmend unter Druck geraten. Die sozioökonomische Situation hat sich in den letzten Jahren verschlechtert, und den Verantwortlichen ist es nicht gelungen, eine Antwort auf Probleme wie stagnierende Löhne und Renten, Arbeitslosigkeit und Auswanderung zu finden.
Innere Sicherheit als oberste Priorität
Im Lauf des letzten Jahrzehnts hat sich Belarus sich zu einem Staat entwickelt, der in erster Linie von Sicherheitserwägungen getrieben wird. Bereits bevor Präsident Lukashenka faktisch die Wahl verlor, bereitete sich das Regime auf mögliche Szenarien einer innenpolitischen Destabilisierung vor. In letzter Zeit haben zudem Vertreter des Sicherheitsapparates an Macht und Einfluss gewonnen: „Der Gesellschaftsvertrag, der breite Schichten einbezog, wurde zu einem enggefassten Sicherheitsvertrag umdefiniert, der nur noch den Präsidenten und loyale Sicherheitsstrukturen einbezieht“, fasst die Politikwissenschaftlerin Nadja Douglas zusammen.
Covid-19 als Katalysator, Polizeigewalt als Brandbeschleuniger
Soziale Proteste im eigentlichen Sinn gab es erstmals 2017, als es zu einer beispiellosen Mobilisierung auf den Straßen kam, um ein Gesetz zu verhindern, das Arbeitslosen eine Sondersteuer auferlegen sollte. Diese Proteste können als Auftakt zu den Ereignissen von 2020 gesehen werden. „Das Gefühl von Solidarität, der Glaube an Selbstorganisation und Selbsthilfe, erstmals erprobt während der Covid-19-Pandemie, bereiteten nun den Weg für die sich ausweitenden Proteste und eine Neubestimmung der belarusischen sozialen und nationalen Identität“, so Douglas.
Polizeigewalt, willkürliche Festnahmen, Vorwürfe schwerer Menschenrechtsverletzungen und Folter sowie schließlich die Straflosigkeit der OMON-Spezialeinheiten veranlassten nur noch mehr Menschen dazu, öffentlich ihre Empörung zu zeigen und sich den Protesten anzuschließen.