Entscheidende Phase der ukrainischen Dezentralisierung
Dieses Jahr stellt einen entscheidenden Meilenstein auf dem ukrainischen Reformweg dar, der nach der sogenannten „Revolution der Würde“ von 2014 eingeschlagen wurde. Die Dezentralisierung der Ukraine wurde bisher weitgehend als sehr erfolgreich eingestuft. Vor der Reform waren die staatlichen Strukturen des Landes durch zentralisierte, politische Entscheidungsprozesse geprägt. Wichtige Entscheidungen mussten von den zentralen Behörden in Kiew genehmigt werden, wodurch der Spielraum lokaler Initiativen auf ein Minimum beschränkt wurde. Nun werden politische Zuständigkeiten von der nationalen auf die lokale Ebene umverteilt und Gemeinden können sich auf freiwilliger Basis zusammenschließen. Einer der sichtbarsten Erfolge der Dezentralisierung ist dabei die Erhöhung lokaler Budgets. Weitere für 2020 vorgesehene Reformschritte könnten entweder ein transformatives Wunder vollbringen oder zu einer dramatischen Enttäuschung werden.
Das New Europe Center und das Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) haben in einer gemeinsam durchgeführten Studie den aktuellen Stand der Dezentralisierung sowie mögliche Wege beurteilt, wie die damit verbundenen Herausforderungen bewältigt werden können. Ein zentrales Ergebnis der Studie ist, dass die Dezentralisierung zu den beliebtesten Reformen in der Ukraine gehört. Auch in einer vom Gorshenin-Institut durchgeführten Umfrage äußerten kürzlich 68,3 Prozent der befragten Ukrainer*innen, dass die Regierung Reformen der lokalen Regierungsstrukturen weiter umsetzen müsse, und 45,3 Prozent haben nach eigener Angabe positive lokale Veränderungen infolge der Dezentralisierung erlebt.
Dieses Jahr tritt die Dezentralisierung in eine kritische Phase. Seit Januar 2020 wurden im Zuge der Reform 1.029 vereinigte Territorialgemeinden („amalgated territorial communities“, ATCs) gebildet, mit jeweils eigenen Aufgaben, Budgets und Rechten. In der Ukraine ist eine ATC eine Kommunalverwaltung, die aus dem Zusammenschluss der Bewohner*innen mehrerer Städte oder Dörfer hervorgeht. Bisher wurden ATCs auf freiwilliger Basis gebildet, was den demokratischen Graswurzelcharakter der Reform zeigt.
Nun hat Kiew jedoch die ehrgeizige Absicht, noch nicht vereinigte Gemeinden in den kommenden Monaten zusammenzuschließen, da für Oktober dieses Jahres landesweite Kommunalwahlen geplant sind. Zeitdruck ist eines der Hauptmerkmale der Reformbemühungen der Regierung. Die Behörden haben vor, in einem knappen Zeitfenster regionale Bürgerversammlungen abzuhalten, die Verfassung zu ändern und mehr als 300 neue ATCs zu bilden.
Internationale Unterstützung
Westliche Geldgeber haben bisher mehr als 250 Millionen Euro zur ukrainischen Dezentralisierung beigesteuert. Die Kooperation zwischen den ukrainischen Behörden und den Geberorganisationen kann als ein wirkungsvolles Modell für andere Reformen dienen. Insgesamt setzt die Ukraine momentan 24 vom Westen unterstützte Projekte und Programme um.
2017 ernannte die deutsche Regierung den früheren sächsischen Ministerpräsidenten Georg Milbradt zum Sondergesandten für die ukrainische Reformagenda. Dabei handelt es sich um eine einzigartige Form der Kooperation zwischen der Ukraine und Deutschland, die Berlins tatkräftige Unterstützung der von Kiew vorangetriebenen Dezentralisierungsreform unterstreicht. Wie die Geschichte der Dezentralisierung in Europa zeigt, gibt es kein universelles Erfolgsrezept. Die Ukraine muss also ihr eigenes Modell ausarbeiten und umsetzen, indem sie sich bewährter Methoden der skandinavischen Länder, Polens, Deutschlands, Frankreichs und der baltischen Staaten bedient – ohne diese aber zu kopieren.
Die Vorteile der Dezentralisierung
Eine der größten mit der Dezentralisierung zusammenhängenden Veränderungen ist das Aufblühen der lokalen Demokratie, da örtliche Behörden nun mehr auf die Erwartungen ihrer Gemeinden achten. Bisher konnten lokale Politiker*innen die Wünsche der Wähler*innen ignorieren und der Zentralregierung die Schuld dafür geben, dass lokale Projekte nicht genehmigt oder finanziert wurden. Zivilgesellschaftliche Akteur*innen werden jetzt bei sogenannten partizipatorischen Budgets miteinbezogen, ein Konsultationsprozess, der im postsowjetischen Raum nahezu beispiellos ist. Ein System, das lokale Beamte in unmittelbareren Kontakt mit den Gemeinden bringt und sie diesen gegenüber zur Rechenschaft verpflichtet, erschwert Fehlverhalten wie etwa Korruption. Die drohende öffentliche Ächtung ist wahrscheinlicher als die Verurteilung vor einem ukrainischen Gericht.
In diesem Kontext ist es wichtig, unabhängige lokale Initiativen und Projekte zu unterstützen, die es sich zum Ziel gesetzt haben, die Ausgaben aus den lokalen Budgets zu überwachen. Westliche Geldgeber*innen, die Antikorruptionsmaßnahmen unterstützen, sollten diesem Bereich mehr Aufmerksamkeit schenken. Die ukrainische Regierung sollte zudem, durch externe Interessensvertreter*innen unterstützt, das Strafverfolgungssystem des Landes und die Justiz reformieren, da viele lokale unabhängige Ermittler*innen durch Eliten gefährdet oder getötet wurden, die ihre korrupten Aktivitäten schützen wollten.
Demokratisierung ist nicht der einzige wichtige Effekt der Dezentralisierung. Sie hat auch praktische Resultate, die sichtbar und populär sind. Die nun zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel ermöglichen es Kleinstädten und Dörfern, die lokale Infrastruktur wiederherzustellen. Lokale Behörden haben zum Beispiel erstmals seit der Sowjetzeit begonnen, die Sanierung und den Bau alter und neuer Schulen sowie die Restaurierung kommunaler Gebäude zu finanzieren.
Die größte Herausforderung ist es, diese Möglichkeiten richtig zu nutzen. Die Ressourcen sind begrenzt und es wäre für die Gemeinden von Vorteil, wenn mehr in Entwicklungsprojekte investiert würde. Gelegentlich wird die Ukraine für ihre mangelnde Vision des Staates kritisiert, der am Ende der Dezentralisierungsinitiativen stehen soll. Dezentralisierung impliziert nicht nur Veränderungen der administrativen und territorialen Struktur, sondern auch der Gesundheitsversorgung und der Bildung. Viele Schritte werden ad hoc entwickelt und durchgeführt, wodurch größer angelegte Bemühungen untergraben werden könnten.
Im Hinblick auf demokratische Reformen ist die Ukraine im postsowjetischen Raum führend geworden. Eine erfolgreiche Dezentralisierung könnte umfassendere positive Auswirkungen mit sich bringen. Hilfe und Beratung ukrainischer Entscheidungsträger*innen durch die EU und Deutschland sind in diesem Stadium äußerst wichtig. Mitgliedsstaaten der EU, die ein umfassendes Wissen über Dezentralisierungsprozesse besitzen, sollten weiterhin eine aktive Rolle bei der Durchführung der ukrainischen Reformen spielen.
Sergij Solodkij ist erster stellvertretender Direktor des New Europe Center in Kiew und Experte für Außenpolitik, internationale Beziehungen und Sicherheit.
Dieser Artikel wurde als Teil eines vom New Europe Center (Ukraine) und dem Zentrum für Osteuropa – und internationale Studien (ZOiS, Deutschland) gemeinsam durchgeführten Projekts geschrieben. Der Artikel ist eine zusammengefasste Version des Aufsatzes „The Link between Decentralization and EU Integration“, der im Februar 2020 in Berlin vorgestellt wurde.