ZOiS Spotlight 7/2017

Armenien nach den Wahlen

Von Nadja Douglas 26.04.2017
Das Porträt des armenischen Präsidenten Sersch Sargsjan neben der Landesflagge in einem Klassenzimmer. Nadja Douglas

Die regierende Republikanische Partei Armeniens (HHK) wurde mit großer Mehrheit wiedergewählt. Laut der internationalen Nichtregierungsorganisation Freedom House gilt Armenien als „semi-konsolidiertes autoritäres Regime“. Erstaunlich ist indessen der Kontrast zwischen dem vergleichsweise schlechten Abschneiden in den Bereichen Regierungsführung und Rechtsstaatlichkeit und der positiven Beurteilung der relativ dynamischen und frei agierenden Zivilgesellschaft.

Dass Wahlen einen zentralen Maßstab zur Messung von Demokratie darstellen, gilt seit Langem als überholt. Zumal auch nicht mehr davon gesprochen werden kann, dass Armenien oder andere post-sowjetische Staaten sich weiterhin in einer Phase der Transition befänden. Dennoch vermittelt die Wahl Anfang April in mehrerlei Hinsicht einen Eindruck des gestiegenen zivilgesellschaftlichen Engagements im Land.

Nachdem im Dezember 2015 ein Verfassungsreferendum angenommen wurde, das den Weg für einen Wechsel von einem semi-präsidentiellen System hin zu einer parlamentarischen Regierungsform ebnete, wurden die diesjährigen Parlamentswahlen national und international mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgt. Präsident Sersch Sargsjans zweite und letzte Amtszeit endet formal 2018. Bis dahin soll der Übergang abgeschlossen sein. Folglich soll dann das Amt des Präsidenten politisch abgestuft und auf symbolische und repräsentative Aufgaben beschränkt werden. Die gesamte politische Macht hingegen wird auf den Ministerpräsidenten übertragen. Obwohl Sargsjan dies bis vor kurzem stets dementierte, wird landläufig vermutet, dass er langfristig den Posten des Ministerpräsidenten anstrebt.  

Darüber hinaus wurde 2016 ein neues Wahlgesetz verabschiedet. Im Vorfeld war der Regierung von internationalen Partnern empfohlen worden, eine breitangelegte gesellschaftliche Diskussion diesbezüglich zu organisieren. Die Erarbeitung des Wahlgesetzes erfolgte deshalb im sogenannten 4+4+4-Format, mit jeweils vier Vertreter*innen der Regierung, der Opposition und der Zivilgesellschaft. Das Büro für Demokratische Institutionen und Menschenrechte (ODIHR) der OSZE sowie die vom Europarat eingerichtete Europäische Kommission für Demokratie durch Recht, die sogenannte Venedig-Kommission, befanden, dass eine Reihe von früheren Empfehlungen umgesetzt worden war. Unter anderem wurde eine verbesserte Wähleridentifizierung mithilfe von elektronischer Authentifizierung eingeführt, welche die mehrfache Stimmabgabe verhindern sollte. Außerdem wurde in einem Großteil der Wahllokale Kameras zur Videoüberwachung installiert. Eine weitere Neuerung betraf die Veröffentlichung unterschriebener Wählerverzeichnisse im Nachgang der Wahl. Für letzteres hatten sich insbesondere die Vertreter*innen der Zivilgesellschaft stark gemacht. Letztlich waren diese jedoch nicht bereit, das Gesetz mitzutragen, da sie an den Restriktionen gegenüber zivilen Beobachter*innen Anstoß nahmen, deren Zahl zwar insgesamt erhöht, aber in jedem einzelnen Wahllokal begrenzt wurde.

Die neun Parteien, die zur Wahl standen, unterscheiden sich inhaltlich kaum. Ihnen wurde vorgeworfen, dass es ihnen an innovativen Ideen mangele, von politischen Alternativen ganz zu schweigen. Bezeichnend für Wahlen in Armenien ist, dass das Thema Sicherheit und Militär eine herausragende Rolle einnimmt. Der schwelende Konflikt mit Aserbaidschan um die Region Berg-Karabach und die ebenfalls problematische Beziehung zum Nachbarland Türkei sind traditionell wichtige Wahlkampfthemen. Letzteres ist gerade dieser Tage anlässlich des nationalen Gedenkens an den Völkermord der Osmanen an den christlichen Armeniern im Jahre 1915 am 24. April wieder Thema. Für das Land höchst virulente soziale Themen, wie etwa Bildung und Wohlfahrt, spielen hingegen nur eine sehr untergeordnete Rolle. Demgemäß folgern insbesondere junge Menschen, dass es gar keine richtige Wahl gibt. Auch das Parteienbündnis „Zarukjan-Allianz“, benannt nach dem Herausforderer der Regierung, Großunternehmer Gagik Zarukjan, wird zumeist ebenfalls zur politischen Elite gezählt. Da die Rivalität zwischen der Republikanischen Partei (HHK) und der Zarukjan-Allianz durchaus authentisch ist, überraschte es viele Beobachter*innen, dass die HHK mit 49,2 Prozent schließlich doch ein weitaus höheres Ergebnis als die zweitplatzierte Zarukjan-Allianz (27,4 Prozent) erzielte. Die einzigen beiden anderen Parteien, die die Fünf-Prozent-Hürde nahmen, waren die erstmals im Parlament vertretene pro-europäische und liberale Yelk-Allianz (7,8 Prozent) und die ehemalige kleinere Regierungspartei, Armenisch Revolutionäre Föderation (Dashnagtzutjun), mit 6,6 Prozent.

Wie internationale Wahlbeobachter*innen von OSZE/ODIHR vor und auch nach den Wahlen bemerkten, konnten alle Vorkehrungen nicht verhindern, dass die Wahl letztlich von glaubwürdigen Informationen über Stimmenkauf und Wählerbeeinflussung überschattet wurde. Die allgemeine Organisation der Wahlen sowie die Kombination aus verbesserten technischen Voraussetzungen und gestiegener Zahl zivilgesellschaftlicher Wahlbeobachter*innen wurden zwar positiv bewertet, doch wurde auch festgestellt, dass es nach wie vor ein geringes allgemeines Vertrauen in die Integrität des Wahlprozesses gibt.

Nationale Wahlbeobachter*innen der "Citizen Observer" Initiative, etwa von der European Platform for Democratic Elections (EPDE), bemängelten zudem, dass von den mehr als 28.000 zivilen Beobachter*innen, die von der Zentralen Wahlkommission akkreditiert worden waren, lediglich 20 Prozent Repräsentant*innen anerkannter unabhängiger zivilgesellschaftlicher Organisationen waren. Die große Mehrheit bestand hingegen aus politischen Akteur*innen oder gänzlich unbekannten Organisationen.

Die Wiederholung von Verstößen, die bereits bei früheren Wahlen aufgefallen waren, etwa der Missbrauch von Angestellten der staatlichen Verwaltung, wurde auch bei den diesjährigen Wahlen festgestellt. Vertreter*innen der armenischen NGO „Union der informierten Bürger“ deckten im Vorfeld der Wahl auf, dass zahlreiche Leiter*innen von Schulen und Kindergärten Wählerlisten für die Republikanische Partei generiert hatten. Die Tatsache, dass bislang keine offiziellen Ermittlungen eingeleitet wurden, nahm die armenische Zivilgesellschaft mit Empörung auf und forderte die Behörden in einem offenen Brief zum Handeln auf.

Nach den Wahlen machte sich in weiten Teilen der armenischen Bevölkerung ein Gefühl der Resignation breit, und der Einsicht, dass eine Mehrheit der Armenier*innen womöglich gar kein Interesse an demokratischen Verfahren habe. Ein Hoffnungsschimmer bleibt dennoch für viele, besonders junge Menschen in der Hauptstadt: die Herausbildung einer neuen politischen Kraft. Es wird zwar nicht erwartet, dass die junge Oppositionspartei Yelk (übersetzt „Exit“- bzw. „Ausweg“-Allianz) der alten Garde der Republikanischen Partei etwas entgegensetzen kann. Doch die Tatsache, dass der Parteienblock aus den relativ neuen Parteien „Civil Contract“ und „Bright Armenia“ das dritthöchste Wahlergebnis und damit neun Sitze im Parlament erzielen konnte, lässt aufmerken. Zu einem nicht geringen Teil bestehen die Mitglieder aus ehemaligen Aktivist*innen der Straßenproteste rund um den Mashtots Park, Electric Yerevan, und Khorenatsi. Insofern bleibt bei vielen die Zuversicht, dass möglicherweise eines Tages die vielen Beispiele von kurzzeitigen sozialen Protesten in Armenien in eine beständigere Form gesellschaftlichen politischen Handelns überführt werden können.


Nadja Douglas ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZOiS. Sie war im April zu Forschungszwecken in Armenien.