ZOiS Spotlight 46/2020

Belarus erhebt sich: vier Monate und kein Ende in Sicht

Von Olga Onuch 16.12.2020
Protestierende in Minsk, November 2020 © imago images / ITAR-TASS

Am 10. August 2020, einen Tag nach den Präsidentschaftswahlen, begannen in Belarus regimekritische Massenproteste, die mittlerweile bereits mehr als vier Monate andauern. Wie lange die Proteste damit schon anhalten, verdeutlicht ein Vergleich mit anderen wichtigen Protestbewegungen: So dauern sie zum Beispiel bereits 100 Tage länger als die Ägyptische Revolution von 2011 und über 30 Tage länger als die Euromaidan-Proteste, die 2013-2014 in der Ukraine stattfanden.  

An den Protesten in Belarus ist nicht nur bemerkenswert, wie lange sie sich bereits hinziehen, sondern auch,  dass es bisher weder zu gewalttätigeren direkten Aktionen gekommen ist noch zentrale Plätze der Innenstädte besetzt wurden. Trotz der extremen Gewalt und Repression, die vom Regime des belarussischen Präsidenten Aljaksandr Lukaschenka ausgeht, bleiben die Demonstrant*innen weiterhin friedlich. Bis jetzt wurden mehr als 30.000 Menschen verhaftet und mehr als 1.300 schwer verletzt. Dutzende gelten als vermisst.

Im Rahmen laufender Forschungen des MOBILISE-Projekts wurde eine Umfrage unter Belaruss*innen durchgeführt, die einen Portrait der durchschnittlichen Demonstrant*in zu zeichnet. Die zum ersten Mal am 18. August durchgeführte Umfrage[1] ist wahrscheinlich die einzige umfassende Datengrundlage dieser Art im Zusammenhang der belarussischen Proteste.

Viele demonstrierten zum ersten Mal

In der Woche des 10. August strömten viele durchschnittliche, belarussische Bürger*innen auf die Straßen der großen Städte des Landes, obwohl viele Beobachter*innen annahmen, dass das autoritäre Regime Lukaschenkas Belarus fest im Griff hätte und die Bevölkerung in einem Zustand politischer Apathie verharren würde. Die meisten Demonstrant*innen hatten sich zuvor nicht an Protesten beteiligt, waren mit einer hohen Wahrscheinlichkeit kein Mitglied einer oppositionellen Partei oder Organisation, und waren teilweise in der Vergangenheit nicht einmal wählen gegangen.

Die MOBILISE-Umfrage zeigt, dass 70 Prozent der Teilnehmer*innen vorher noch nie protestiert hatten. Obwohl die meisten von ihnen also unerfahren waren, nahmen sie wiederholt an den Protesten teil: im Durchschnitt gingen die befragten Demonstrant*innen seit ihrer ersten Teilnahme auf zwei bis vier Demonstrationen.

Auf dem Höhepunkt der Proteste waren bis zu 200.000 Menschen auf der Straße. Mittlerweile ist die Anzahl der Demonstrant*innen bei den wöchentlichen Märschen und Kundgebungen auf einige Tausend gesunken. Nichtsdestotrotz konnte die Dynamik der Proteste aufrechterhalten werden. Damit sind sie die bedeutendste Massenmobilisierung, die Osteuropa in den letzten Jahrzehnten erlebt hat.

Der MOBILISE-Umfrage zufolge stammen etwa 56 Prozent aller Demonstrant*innen aus Minsk. Eines der wichtigsten Merkmale der Proteste ist jedoch ihr dezentraler Charakter – was sich sowohl in Minsk zeigt, wo viele Aktionen auf nachbarschaftlicher Ebene organisiert werden, als auch an den Protestaktionen, die über das ganze Land verteilt an verschiedenen Orten stattfinden. Oftmals reisen Demonstrant*innen in die Hauptstädte, um dort zu protestieren – so war es zum Beispiel in der Ukraine. Dieses typische Muster ist in Belarus nicht zu beobachten.

Die belarussischen Proteste sind weniger führungslos als sie erscheinen. Ihre Anführer*innen sind nicht unbedingt mit den Oppositionspolitiker*innen gleichzusetzen. Viele scheinen jedoch bereits Erfahrungen von früheren, kleineren Demonstrationen zu besitzen und sind über versteckte Kanäle miteinander vernetzt.

Massenverhaftungen und Wahlbetrug als Auslöser

Es waren hauptsächlich zwei Faktoren, die viele Belaruss*innen dazu motivierten und mobilisierten, an den Protesten teilzunehmen. Zum einen beging Lukaschenka einen schwerwiegenden taktischen Fehler, als er in den ersten vier Tagen der Proteste mehr als 7.000 Menschen verhaften ließ. Für 89 Prozent der Befragten waren diese Massenverhaftungen und die umfassend dokumentierte Brutalität, mit der die Verhafteten behandelt wurden, der Anlass, sich den Protesten anzuschließen.

Zum anderen motivierten die gefälschten Ergebnisse der Präsidentschaftswahl viele Menschen dazu, auf die Straße zu gehen. Sie waren knapp hinter den Massenverhaftungen der am zweithäufigsten genannte Grund für die Teilnahme an den Demonstrationen. Einen entscheidenden Wendepunkt der Proteste stellt die Zeit zwischen dem 13. und 14. August dar, als sich auf den Straßen der großen Städte ein breites Bündnis aus Eltern, Nachbar*innen und streikenden Fabrikarbeiter*innen formierte.

Wie unsere Daten zeigen, waren Arbeiter*innenstreiks zwar in den ersten zwei Monaten ein wesentlicher Bestandteil der Proteste - zwanzig Prozent der Befragten hatten an ihnen teilgenommen. Mittlerweile ist der Anteil derjenigen, die sich an Streiks beteiligt haben, jedoch auf acht Prozent abgesunken. Hinsichtlich ihres sozioökonomischen Status gaben 70 Prozent der Befragten an, dass sie „genug Geld haben, aber sparen müssen, um sich teurere Anschaffungen wie einen Kühlschrank oder einen Fernseher leisten zu können“. Für belarussische Verhältnisse geht es den Demonstrant*innen somit finanziell insgesamt relativ gut. Je länger die Proteste andauern, desto weniger arme Belaruss*innen beteiligen sich an ihnen.

Forderungen und Aussichten

Die wichtigste Forderung der Demonstrant*innen ist, dass Lukaschenka zurücktritt. Knapp über 35 Prozent drückten ihre Bereitschaft aus, so lange zu demonstrieren, bis diese Forderung erfüllt wird. Knapp unter 29 Prozent wünschen sich weitreichendere Veränderungen als Neuwahlen und einen neuen Präsidenten. Sie hoffen auf einen umfassenden demokratischen Wandel in Belarus. Im Vergleich dazu wären 20 Prozent der Befragten damit zufrieden, wenn die Präsidentschaftswahl vom August wiederholt werden würde, und gaben an, deren Ergebnis akzeptieren, zu wollen, solange es eine freie und faire Wahl gäbe.

Überwältigende 22 Prozent der Befragten wollen auswandern. Im Durchschnitt sind die Demonstrant*innen relativ wohlhabend, gut gebildet, und verfügen zumeist über ausreichende Ressourcen, um sich einen solchen Schritt leisten zu können. Falls viele der Demonstrant*innen tatsächlich im Zuge der aktuellen Krise auswandern werden anstatt den politischen Kampf in ihrer Heimat fortzusetzen, könnte der auf Lukaschenkas Regime lastende Reformdruck sinken. Sollte es dazu kommen, werden die Belaruss*innen wohl nicht nur nach Polen und in die Ukraine, sondern auch nach Russland auswandern. Diese Aussicht könnte einen Anreiz für den Kreml darstellen, Druck auf Lukaschenka auszuüben, zurückzutreten und den Weg für einen Machtwechsel freizumachen.


[1] mit n=41.091 Befragten (38.565 auf Russisch und 2.526 auf Belarussisch) – darunter n=12.902 (Russisch) und n=835 (Belarussisch) vollständig ausgefüllte Umfragebögen


Dr. Olga Onuch ist Dozentin am Institut für Sozialwissenschaften der Universität Manchester, Großbritannien. Sie ist eine der Hauptverantwortlichen des MOBILISE-Projekts, an dem das ZOiS als Partnerinstitution beteiligt ist. Für die Umfrage unter den belarusischen Demonstrant*innen arbeitet sie mit Prof. Dr. Gwendolyn Sasse und Dr. Piotr Goldstein vom ZOiS zusammen.