Bundestagswahl: Quo vadis, Osteuropapolitik?
Das Ende der Merkel-Ära bedeutet Ungewissheit über den zukünftigen politischen Kurs Deutschlands und der EU in den Beziehungen zu Osteuropa. Insbesondere Russland hatte sich Bundeskanzlerin Angela Merkel zur Priorität gemacht. Immer wieder suchte sie den direkten Draht zum russischen Präsidenten Wladimir Putin, auch wenn die Aussicht darauf, seinen innen- oder außenpolitischen Kurs zu beeinflussen, äußerst begrenzt war. Damit hat sie jedoch gezeigt, dass direkter Kontakt auch bei konträren Interessen wichtig bleibt und die Gegenüberstellung von Dialog und Sanktionen zu kurz greift.
Die Bundeskanzlerin spielte eine zentrale Rolle bei der Formulierung und dem Erhalt des EU-Sanktionsregimes gegenüber Russland nach der Krim-Annexion 2014 und dem Ausbruch des von Russland unterstützten Kriegs in der Ostukraine. Auch im Normandie-Format, mit dem die Ukraine, Russland, Deutschland und Frankreich die Eskalation des Kriegs verhindern konnten, war sie die treibende Kraft. Das Format generierte das Minsker Abkommen und bietet weiterhin den einzigen Rahmen für Verhandlungen, auch über humanitäre Fragen.
Dass Merkel die Gaspipeline Nord Stream 2 viele Jahre als „rein wirtschaftliches Projekt“ bezeichnet hat, steht im Widerspruch zu den anderen Pfeilern ihrer Russland-Politik, auch wenn sie sich in der Endphase des Projekts für den Erhalt eines Teils des Gastransits durch die Ukraine stark gemacht hat.
Insgesamt hinterlässt ihr Abgang eine Lücke in der Russlandpolitik Deutschlands und der EU. Momentan hat keine*r der Spitzenkanditat*innen in der Bundestagswahl das Interesse oder die Statur, dieses Thema über Rhetorik hinaus zur Chef*innensache zu machen.
Kein Weg vorbei an Russland
Die Liste der Herausforderungen in Osteuropa, die sich direkt oder indirekt mit Russland verbinden, ist lang – von der Frage nach den an die Inbetriebnahme von Nord Stream 2 gekoppelten Konditionen, dem Erhalt bzw. der Ausdehnung der EU-Sanktionen gegenüber Russland, der Notwendigkeit einer politischen Antwort auf die Repressionen in Belarus bis hin zu einem neuen Impetus für die Politik der Östlichen Partnerschaft.
Auch wenn Russland und China sowie die zukünftigen transatlantischen Beziehungen als Herausforderungen in den Parteiprogrammen benannt wurden, so lag auch in diesem Wahlkampf der Akzent eindeutig auf der Innenpolitik – innerhalb der Parteien selbst und im Mediendiskurs. Selbst die EU, ihr Reformbedarf und ihre außenpolitische Präsenz wurden in der öffentlichen Debatte nur am Rande gestreift. Die Fernsehdebatten der drei Kanzlerkandidat*innen vermieden außenpolitische Fragen fast ganz. Dies entspricht der auch in den Politikwissenschaften immer wieder postulierten Annahme, dass Wahlen nicht mit Außenpolitik gewonnen werden. In einer Welt, in der die engen Verknüpfungen zwischen Innen- und Außenpolitik immer deutlicher und auch im Alltag spürbar werden – so zum Beispiel in der Corona-Pandemie, im Syrienkrieg oder in der Afghanistan-Krise –, wird diese Annahme der Realität jedoch nicht gerecht.
Die SPD und die Tradition der Ostpolitik
Kanzlerkandidat Olaf Scholz (SPD) steht in einer politisch schwierigen Tradition. Die Partei fühlt sich dem Prinzip des Dialogs mit Russland verpflichtet und knüpft dabei rhetorisch an Willy Brandts Ostpolitik an. Auch in der jetzigen Regierungskoalition von CDU und SPD hatte das SPD-geführte Auswärtige Amt erfolglos versucht, den Begriff der Ostpolitik wiederzubeleben. Dass genau diese Idee in derselben Formulierung („europäische Ostpolitik“) nun im SPD-Wahlprogramm auftauchte, diesmal explizit mit Bezug auf die Normen der OSZE, veranschaulicht, wie wichtig es der Partei ist, diesen Begriff in der Erinnerung zu erhalten.
Die SPD räumt Russland und Osteuropa in ihrem Wahlprogramm mehr Raum ein als die anderen Parteien der Mitte. Sie diagnostiziert die Notwendigkeit einer „konzeptionell neu ausgerichteten europäischen Nachbarschaftspolitik“, lässt jedoch keine neuen Impulse erkennen. Die zentrale Rolle Russlands für den Frieden in Europa und die Bereitschaft zum Dialog wird im Programm der SPD betont, verbunden mit dem konkreten Ziel, zivilgesellschaftliche Kontakte und Visaerleichterungen für den Austausch unter jungen Menschen zu fördern. Sanktionen werden nicht direkt thematisiert, denn es gibt weder unter führenden SPD-Politiker*innen noch in der Partei einen Konsens zu diesem Thema. Scholz selbst hatte sich beim Thema Sanktionen, auch im Zusammenhang mit dem Giftanschlag auf den Oppositionellen Alexej Nawalny, zurückgehalten.
CDU warnt vor Russland
Das Wahlprogramm der CDU/CSU stellt, anders als die anderen Wahlprogramme, die außen- und sicherheitspolitischen Herausforderungen an den Anfang. Neben der Forderung nach einer regelmäßig veröffentlichten nationalen Sicherheitsstrategie wird hier der Wertekonflikt mit autoritären Staaten wie Russland klar benannt. Unter der Überschrift „Russland konstruktiv und entschlossen begegnen“ lautet der erste Satz „Russland fordert unsere Werte heraus“. Es geht bei der Stärkung von EU und NATO um „glaubwürdige“ Resilienz und militärische Abschreckung. Der Dialog und die Zusammenarbeit mit Russland sollen auf die Felder beschränkt werden, wo sich gemeinsame Interessen zeigen – der internationale Klimaschutz ist das einzige konkret genannte potenziell verbindende Ziel. Darüber hinaus spricht das Wahlprogramm davon, die Unabhängigkeit der osteuropäischen Nachbarn stärken zu wollen; der Krieg in der Ukraine, die Krim-Annexion und die Sanktionen werden erwähnt wie auch die Forderung an die belarusische Führung, einen friedlichen Übergang zu ermöglichen. Kanzleramtskandidat Armin Laschet (CDU) gilt als eher unkritisch gegenüber Russland. Nord Stream 2 hat er noch weniger infrage gestellt als Angela Merkel selbst. Mit etwaiger Expertise zu oder Interesse an Osteuropa hat er bisher nicht aufwarten können.
Grünes Nein zu Nord Stream 2
Das Wahlprogramm von Bündnis 90/Die Grünen geht mit Bezug auf die Länder der Östlichen Partnerschaft am weitesten und fordert, dass für sie der Weg zum EU-Beitritt freigehalten werden solle. Russland wird auch hier als zunehmend autoritärer Staat benannt, von dem militärische und hybride Gefahren für „Demokratie, Stabilität und Frieden in der EU und in der gemeinsamen Nachbarschaft“ ausgehen. Neben dem Ziel, die zivilgesellschaftlichen demokratischen Kräfte in Russland zu stärken, wird die Möglichkeit neuer Sanktionen erwähnt. Die Grünen sind die einzige Partei, die explizit einen Stopp von Nord Stream 2 fordert.
Die FDP geht nicht auf die Östliche Partnerschaft ein. Mit Blick auf Russland wird die Unterstützung für die gegenwärtigen Sanktionen mit dem Ziel des „Wiederaufbau(s) von Vertrauen“ verknüpft. Über die Inbetriebnahme von Nord Stream 2 soll laut Wahlprogramm auf EU-Ebene gemeinsam entschieden werden. Die Linke und die AfD positionieren sich mit einer explizit russlandfreundlichen und sanktionskritischen Politik.
Eine Regierungsbeteiligung der Grünen könnte am ehesten neue Akzente in der deutschen und EU-Russlandpolitik setzen. Bei möglichen rot-rot-grünen Koalitionsverhandlungen lassen sich die Russland-Position der Linken mit denen der Grünen am wenigsten vereinbaren. Zugleich ist es unwahrscheinlich, dass eine Regierungsoption an dieser außenpolitischen Differenz scheitern würde, nicht zuletzt weil sich die Linke und die Basis der Grünen, wenn auch nicht ihre Führung, in ihrem Denken beim Thema Sicherheit näherstehen.
Die Russland- und Osteuropapolitik droht somit bei Koalitionsverhandlungen zur Verhandlungsmasse statt zu einer programmatischen Debatte zu werden. Darin liegt ein Risiko, denn selbst Kontinuität in der Post-Merkel-Russlandpolitik bedarf einer Strategie.
Gwendolyn Sasse ist die wissenschaftliche Direktorin des ZOiS.