„Das Feld des Fußballs hat eine Eigenlogik“
In seinem kürzlich erschienenen Essay Ersatzspielfelder. Zum Verhältnis von Fußball und Macht (Suhrkamp 2018) beleuchtet der Autor Timm Beichelt die gesellschaftliche Bedeutung von Fußball im gesamteuropäischen Kontext. Auf diese Weise möchte er grundlegende Aussagen zum Verhältnis von Gesellschaft, Macht und Politik treffen.
Der Titel Ihres Buches lautet "Ersatzspielfelder". Was meinen Sie damit?
"Ersatzspielfelder" ist eine Metapher, die ich auch deshalb verwende, weil Metaphern immer mehrdeutig sind. Ein Aspekt des Ersatzspielfelds ist, dass im Feld des Fußballs Konflikte der Spätmoderne, die die gesamte Gesellschaft betreffen, gewissermaßen stellvertretend ausgetragen werden. Ich denke vor allem an den Konflikt zwischen Individualismus und Gemeinschaftsorientierung. Auf der einen Seite das individualistische Paradigma mit seinem Wettbewerbsdenken, ständiger Leistungsfähigkeit und Selbstausbeutung. Auf der anderen Seite der Kommunitarismus mit dem Anspruch, dass man auch in gesellschaftlichen und gemeinschaftlichen Zusammenhängen funktionieren muss. Alles zusammen ist nicht leistbar. Der Fußball bietet hier eine Bühne, auf der Individualismus und Gemeinschaftlichkeit miteinander vereinbar erscheinen. In meinem Buch geht es um das Verhältnis von Fußball und Macht.
Welche Stellung nimmt in diesem Zusammenhang Russland ein?
Russland war zunächst ein wichtiger Anlass für das Buch, weil die Weltmeisterschaft 2018 dort stattfindet. Gleichzeitig ist die Art und Weise, wie Russland seinen Fußball staatsnah organisiert, zum Beispiel durch staatseigene Unternehmen im Sponsoring, paradigmatisch für einen bestimmten Ausschnitt des Weltfußballs. Russland steht für eine Art Idealmodell im Regime der Fifa, das auf maximale Ressourcen und minimalen politischen Widerspruch setzt. Ein Kritikpunkt im Buch lautet, dass sich auch westliche Ligen in demokratischen Staaten den Handlungsparametern in diesem autokratischen Feld immer mehr annähern, ohne es vielleicht selbst zu merken.
Welche Rolle spielt Sport-Sponsoring in Russland - insbesondere im Fußball?
Hier vertrete ich die These, dass es sich eigentlich um eine recht rationale Strategie handelt. Russland deckt verschiedene Sektoren seiner Innen- und Außenpolitik auch im Fußball ab. Da kann man das Investieren in militärische und geheimdienstliche Symbole rund um CSKA sowie Dynamo Moskau sehen. Rund um Spartak Moskau und einige andere Vereine gruppiert sich ein oligarchenähnliches privates Unternehmertum ohne politische Ambitionen. Rund um Lokomotive Moskau wird der Putinismus der Jugendbewegung inszeniert. Und man kann auch sehen, dass die russische Außenwirtschaftsbank (WTB) mit Sponsoring im sogenannten "Nahen Ausland" befasst ist. Hinzu kommen noch Unternehmen wie Gazprom oder Rosneft, so dass man ein Tableau hat, ein Mosaik von relativ plausibel zusammengestellter weicher Außenpolitik.
Lässt sich die politische Bedeutung des Fußballs in Russland mit anderen Ländern vergleichen?
Ja, nach meiner Analyse handelt es sich in Russland letztlich um ein gezähmteres Modell als beispielsweise in der Ukraine oder in Frankreich und zu Teilen auch in England (in Bezug auf die Premier League). Während dort ungebremste Kapitalzuflüsse aus dunklen Kanälen die Regel sind, hat man in Russland in den letzten zwanzig Jahren die schlimmsten Auswüchse beschneiden können. Damit will ich nicht sagen, dass es ein Vorbild ist. Dennoch handelt es sich um einen plausiblen Umgang eines autoritären Staates mit einer großen Konzentration von ökonomischen Kapital. Häufig wird dem Fußball abverlangt, auch demokratieähnliche Normen zu transportieren. Damit überlastet man dieses Feld jedoch. Das kann man daran sehen, dass es Intransparenz, große Machtkonzentration und fehlende Kontrollmöglichkeiten überall im professionellen Fußball gibt, zum Beispiel in der Premier League in England, bei der Fifa in Zürich, bei Paris Saint-Germain, bei anderen französischen Vereinen, die am Tropf russischer Milliardäre hängen. Diesen Auswüchsen ist nun ausgerechnet ein autokratisches System mit einiger Plausibilität entgegengetreten. Das finde ich auf dem Feld des Fußballs interessant, weil es rational ist. Damit propagiere ich nicht generell antidemokratische Werte. Aber ich möchte darauf bestehen, dass das Feld des Fußballs eine Eigenlogik hat und dass man nicht direkt darauf schließen kann, dass aus dem Fußball demokratische Werte in den Rest der Gesellschaft gespült werden. Das kann passieren, aber es muss nicht passieren.
In Ihrem Buch widmen Sie sich den "Fußball-Nationen" Deutschland, Frankreich und Russland. Wonach haben Sie diese Beispiele ausgewählt?
Da ging es darum, bestimmte Phänomene im Feld des Fußballs mit besonders geeigneten Fällen zu illustrieren. Deutschland ist meine Basis, weil ich den deutschen Fußball am besten kenne und hier das Leistungsparadigma und die Mechanismen am besten identifizieren kann, die dafür eingesetzt werden, dass Leistung und Gemeinschaftlichkeit miteinander verbunden werden. Das französische Beispiel habe ich genommen, um zu zeigen, dass die viel gerühmte Integrationskraft des Fußballs nur unter einer bestimmten Bedingung geschieht: nämlich der Bedingung des sportlichen Erfolgs. Deutschland hat diesen Erfolg in den letzten zwanzig Jahren gehabt. Deshalb hat hier die Integration über den Fußball auch ganz gut funktioniert. In Frankreich war das nicht der Fall, hier gab es ein Auf und Ab. So versuche ich zu zeigen, dass Integration auch negativ kodiert werden kann, wenn es im Fußball Misserfolge gibt. Und das russische Beispiel habe ich gewählt, um die Verflechtung von Autokratie und Fußball zu zeigen, die sich dort besonders offensichtlich offenbart.
Das Gespräch führte Stephanie Alberding, Kommunikationskoordinatorin des ZOiS.
Prof. Dr. Timm Beichelt ist Professor für Europa-Studien an der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder).
Timm Beichelt (2018): Ersatzspielfelder. Zum Verhältnis von Fußball und Macht, Suhrkamp