ZOiS Spotlight 25/2021

Das neue Verwaltungsgesetzbuch der Republik Kasachstan

Oberster Gerichtshof der Republik Kasachstan. Das neue Verwaltungsgesetzbuch sieht ein dreistufiges Instanzensystem vor. Sergei Bobylev/TASS/IMAGO

Rund ein Jahr nach einem Gesetzesbeschluss durch das kasachische Parlament tritt am 1. Juli 2021 das kasachische Verwaltungsgesetzbuch in Kraft. Zum ersten Mal wird das allgemeine Verwaltungsrecht der Republik Kasachstan in einem umfassenden Gesetzeswerk geregelt. Was sich nach trockener Materie anhört, ist ein Meilenstein, der der rechtsstaatlichen Entwicklung eines jeden Staates gut zu Gesicht steht.

Verwaltungsrecht regelt die Rechte (und Pflichten) der Bürger*innen im Verhältnis zum Staat, und damit meist zur staatlichen Ausübung von Macht. Es setzt dem staatlichen Handeln Grenzen und gibt den Bürger*innen Instrumente an die Hand, um ihre Interessen zu wahren und zu vertreten. Somit ist das Verwaltungsrecht häufig als kodifiziertes, in Vorschriften gegossenes Verfassungsrecht bezeichnet worden. In erster Linie konkretisiert das Verwaltungsrecht die Grund- und Menschenrechte. Der Staat unterwirft sein Handeln (oder Unterlassen!) gerichtlicher Kontrolle und gestattet seinen Bürger*innen, ihre Rechte gegenüber dem Staat durchzusetzen.

Am neuen kasachischen Verwaltungsgesetzbuch ist bemerkenswert, dass es einerseits die bestehenden verstreuten Vorschriften für das Verwaltungsverfahren „einsammelt“ und kodifiziert und andererseits für das gerichtliche Verfahren eine Verwaltungsgerichtsordnung in Kraft setzt. Damit entsteht eine einheitliche Verfahrensordnung für Behörden und Gerichte aus einem Guss. Der kasachische Gesetzgeber hat sich dabei maßgeblich an dem Musterentwurf eines Verwaltungsgesetzbuchs für Zentralasien orientiert, das unter Federführung der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) entstanden ist.

Das Verwaltungsverfahren: Kodifizierter Rechtsstaat

Das neue Verwaltungsgesetzbuch legt in seinem zweiten Kapitel die wesentlichen Prinzipien des Verwaltungs- und Verwaltungsgerichtsverfahrens fest. Dazu gehören wichtige Elemente des in der kasachischen Verfassung verankerten Rechtsstaatsprinzips, die erstmalig in einem einfachen Gesetz und nicht auf Ebene der Verfassung geregelt werden.

Unter der Überschrift „Der Schutz der Rechte, Freiheiten und gesetzlichen Interessen“ konkretisiert Art. 9 des Verwaltungsgesetzbuches eine Reihe von Verfahrensrechten. Er enthält eine Rechtsschutzgarantie, indem er jedem (kazdyj) das Recht gewährt, sich im Falle einer Rechtsverletzung an die Behörden oder an die Gerichte zu wenden. Weitere Absätze stärken die Rechtsschutzgarantie, indem sie die Verweigerung von Antrags- oder Beschwerderechten, bzw. den Druck zum Verzicht darauf, untersagen und mit Sanktionen belegen. Dies mag selbstverständlich erscheinen. Vor dem Hintergrund der postsowjetischen insbesondere behördlichen Tradition, dass man sich unliebsamer Verfahren entledigte, indem man die entsprechenden Anträge oder Beschwerden schlicht nicht entgegennahm, erscheint diese Klarstellung durchaus angebracht.

 Art. 9 Abs. 4 statuiert das Recht auf den gesetzlichen Richter, indem es ein Abweichen von der gesetzlichen Zuständigkeit untersagt. Ein weiteres wichtiges Verfahrensrecht beschreibt Art. 22 für das Verwaltungsverfahren. Danach haben die Verfahrensbeteiligten das Recht, vor einer Entscheidung im Verwaltungsverfahren angehört zu werden. Im Recht auf Anhörung liegt ein objektiv-rechtliches Prinzip und es wird auch als grundrechtsgleiches Recht bezeichnet. Das rechtliche Gehör ist also nicht nur als Anspruch eines der Beteiligten zu werten, sondern als Pflicht der Behörde – als Verfahrensschritt. Er sichert die Einhaltung rechtsstaatlicher Mindeststandards. Der Einzelne soll nicht nur Objekt der Verwaltungsentscheidung sein, sondern vor einer Entscheidung, die seine Rechte betrifft, zu Wort kommen. Er soll als Subjekt das Verfahren und sein Ergebnis beeinflussen können. Daher ist der Anspruch auf rechtliches Gehör ein wesentlicher Indikator für eine rechtsstaatliche Entwicklung.

Ein anderer rechtsstaatlicher Grundsatz, ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Dieser Grundsatz besagt, dass staatliches Handeln, das in die Rechte des Einzelnen eingreift, nur dann gerechtfertigt ist, wenn damit ein legitimer Zweck verfolgt wird und die Maßnahme überdies geeignet, erforderlich und verhältnismäßig im engeren Sinn (angemessen) ist. Diese vom deutschen Bundesverfassungsgericht entworfene Definition, die einen Prüfungsmaßstab für staatliches Handeln darstellt, übernimmt das kasachische Verwaltungsgesetzbuch und verbindet sie mit Ausführungen zu den einzelnen Merkmalen „geeignet, erforderlich und angemessen“.

Diese Beispiele illustrieren, welchen rechtsstaatlichen Schub das Handeln der kasachischen Exekutive durch das neue Verwaltungsgesetzbuch erfahren wird. Es kleidet die aufgrund einer schwachen verfassungsgerichtlichen Tradition bislang eher im Abstrakten gebliebenen Verfassungsnormen durch einfachgesetzliche Regelungen aus und speist sie in das behördliche Handeln ein.

Das gerichtliche Verfahren: Schlussstein des Rechtsstaats

Für den verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz ist ein dreistufiges Instanzensystem vorgesehen, mit der Möglichkeit der gegen Entscheidungen der Eingangsinstanz Berufung einzulegen und der abschließenden Möglichkeit der Revision zum Obersten Gerichtshof der Republik Kasachstan. Der Rechtsschutz soll durch spezialisierte Richter*innen oder aus ihnen gebildete Kammern der ordentlichen Gerichtsbarkeit ausgeübt werden. Perspektivisch ist vorgesehen, für die Eingangsinstanz spezialisierte eigenständige Verwaltungsgerichte zu schaffen.

Die möglichen Klagearten sind transparent und übersichtlich geregelt. Ein System des Eilrechtsschutzes (also des vorläufigen Rechtsschutzes) ist installiert. Aus deutscher Sicht ungewöhnlich, in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion aber durchaus verbreitet, sind kurze, gesetzlich vorgegebene Entscheidungsfristen für die Gerichte. Zusammengenommen wird ein umfassender und effektiver Rechtsschutz für die Bürgerinnen und Bürger zur Verfügung gestellt.

Besondere Erwähnung verdienen zwei weitere Aspekte:

Zum einen regelt das neue Verwaltungsgesetzbuch detailliert und klar, dass das Gericht den Bürger*innen als regelmäßig schwächere Seite des Prozesses in besonderer Weise verpflichtet ist, ohne dadurch seine Neutralität aufzugeben. Im Rahmen des Untersuchungsgrundsatzes hat das Gericht den Sachverhalt selbst und vollständig auszuermitteln und sich nicht nur an die behördlichen Akten zu halten. Im Rechtsgespräch in der mündlichen Verhandlung sind die Bürgerinnen und Bürger so zu unterstützen, dass sinnvolle Anträge gestellt werden.

Zum anderen ist die Möglichkeit gerichtlicher Mediation ausdrücklich geregelt und wird vom Gesetzgeber als Mittel der Streitbeilegung begrüßt.

Law in the books - law in action

Das Inkrafttreten des Gesetzes wurde auf den 1. Juli 2021 festgesetzt – ein ungewohnt später Zeitpunkt ein Jahr nach seiner Verabschiedung. Dies geschah, um den betroffenen Akteuren einen Vorlauf zur Vorbereitung auf die neue Rechtslage einzuräumen.

Die Judikative, aber auch die Exekutive, der Republik Kasachstan war in den letzten Monaten sehr bemüht, die Gerichtsbarkeit und die Behörden auf die neuen Regelungen vorzubereiten. Unter anderem wurden mit Hilfe der Stiftung für Internationale Rechtliche Zusammenarbeit (IRZ-Stiftung) zahlreiche Schulungen für Richter und Beamte durchgeführt, in denen die Anwendung der neuen Vorschriften – oft anhand von Beispielen aus dem deutschen Verwaltungsrecht – ausgiebig diskutiert wurde.

Die Bewertung von Gesetzen und die Zuerkennung von Attributen wie „gut“, „effektiv“ oder „ungeeignet“ ist schwierig. Im vorliegenden Fall darf man aber mit Fug und Recht von einem „modernen“ Gesetzentwurf sprechen, da er die Erfahrungen zahlreicher Staaten im Umgang mit verwaltungsrechtlichen Beziehungen berücksichtigt. Das Ergebnis ist eine konsequente Umsetzung der wesentlichen rechtsstaatlichen Forderungen: der Bürger wird als starkes Subjekt im Verhältnis zum Staat und seinen Einrichtungen anerkannt und es wird ein lückenloser verwaltungsgerichtlicher Rechtsschutzes geschaffen mit der Möglichkeit, Eilrechtsschutz zu erlangen.

Nun ist die altbekannte Skepsis der Rechtssoziologie gegenüber dem law in the books besonders da ernst zu nehmen, wo etwas gänzlich Neues geschaffen wird und sich zunächst zu bewähren hat. Wenn das law in action mit den schriftlichen Vorgaben der Regelungen weitgehend deckungsgleich ist, wird der sehr positive Gesamteindruck des neuen Verwaltungsgesetzbuchs zu bestätigen sein.

Mit großer Spannung darf man auf die ersten Entscheidungen der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung schauen: Wird die Rechtsprechung auch gegenüber dem Staat eine kritische Rolle einnehmen? Werden die Behörden die neuen gerichtlichen Vorgaben in ihren Verfahren berücksichtigen? Und werden gerichtliche Entscheidungen nötigenfalls umgesetzt oder gar vollstreckt, wenn keine freiwillige Beachtung erfolgt?


Dr. Christian Reitemeier ist Leitender Ministerialrat im nordrhein-westfälischen Ministerium der Justiz. Dr. Christian Schaich ist administrativer Direktor des Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien. Die Autoren waren an den durch die IRZ-Stiftung organisierten Beratungen als Experten beteiligt.