Der 22. Juni: Das Gedenken in Russland an den deutschen Überfall auf die Sowjetunion
Am 22. Juni 2021 um 12:15 Uhr steht in Russland das Leben für eine Minute still. Die Autos halten an und die Menschen schweigen. Erinnert wird an den 22. Juni vor 80 Jahren, als Wjatscheslaw Molotow, der Vorsitzende des Rats der Volkskommissare, zur Mittagszeit die sowjetische Bevölkerung im Radio darüber informierte, dass die Wehrmacht die Grenzen der Sowjetunion überschritten hatte und Kiew und Minsk bombardierte. Heute ist dieses Datum in Russland der „Tag des Gedenkens und der Trauer“, der allerdings im Schatten des 9. Mai, des „Tags des Sieges“, steht.
Der Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion
Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion markierte den Beginn eines Vernichtungskriegs, der in der UdSSR 27 Millionen Tote forderte. Kaum eine Familie hatte keine Opfer zu beklagen. Mit dem Einmarsch in die Sowjetunion begann die systematische Vernichtung der jüdischen Bevölkerung Europas. Babyn Jar, eine Schlucht bei Kiew, wurde zum Symbol für die Ermordung der sowjetischen Jüd*innen. Teil der deutschen Kriegsführung war auch eine Hungerpolitik, die vor allem die Bevölkerung in den Städten traf. Infolge der über zweijährigen Belagerung Leningrads verhungerten bis zu einer Million Menschen. Hunderttausende Zivilist*innen wurden unter dem Vorwand der Partisanenbekämpfung ermordet, zahlreiche Dörfer abgebrannt. Zu den größten Kriegsverbrechen zählt der deutsche Umgang mit den sowjetischen Kriegsgefangenen, von denen bis zu drei Millionen die Gefangenschaft nicht überlebten. Kriegsgefangene und Zivilist*innen wurden zur Zwangsarbeit nach Deutschland und quer durch das besetzte Europa transportiert. Der Krieg gegen die Sowjetunion war somit auch für die deutsche Zivilbevölkerung in den Betrieben und auf den Höfen sichtbar.
Gedenken zwischen Sieg und Trauer
Das Gedenken in Russland an den „Großen Vaterländischen Krieg“ bewegt sich im Spannungsfeld von Sieg und Trauer. Es knüpft zum einen an sowjetische Traditionen an und orientiert sich zugleich an der Gegenwart.
Bereits einen Tag nach dem Einmarsch der Wehrmacht wurde in der sowjetischen Tageszeitung Prawda der Begriff des „Großen Vaterländischen Kriegs“ eingeführt, der eine Analogie zum gescheiterten Russlandfeldzug Napoleons von 1812 herstellte. In Russland und Belarus wird er bis heute als offizielle Bezeichnung für den deutsch-sowjetischen Krieg von 1941 bis 1945 verwendet, während sich andere Nachfolgestaaten der Sowjetunion von ihm distanzieren. Die baltischen Staaten etwa interpretieren ihre Geschichte im Rahmen des Zweiten Weltkriegs von 1939 bis 1945 und betonen neben der deutschen auch die sowjetische Besatzung im Zuge des Hitler-Stalin-Paktes. Auch die Ukraine, genauer ihre zentralen und westlichen Teile, verortet sich seit dem Ukrainekrieg von 2014 zunehmend in diesem Interpretationsrahmen und als Opfer zweier Diktaturen.
Der 9. Mai ist seit 1965 zentraler Bestandteil der (post-)sowjetischen Erinnerungskultur an den „Großen Vaterländischen Krieg“. Unter Breschnew wurden ab Mitte der 1960er Jahre das Potential des Sieges und der Beitrag zur Befreiung Europas vom Nationalsozialismus als integrierendes, positives Moment einer nationalen Identität erkannt und zentrale Rituale geschaffen, die bis heute Bestand haben. Der 9. Mai mit der Siegesparade und die mehrtägigen Maifeiertage sind für Russland von größter außen- und innenpolitischer Bedeutung, während der 22. Juni erst unter Jelzin als Gedenktag eingeführt wurde und kein arbeitsfreier Tag ist. Dies legt die Gewichtung im offiziellen Gedenken zwischen Sieg und Heroisierung einerseits und Trauer und Leid andererseits offen. Im familiären Gedenken hingegen stand und steht die Erinnerung an die Angehörigen und die Trauer über ihren Verlust im Zentrum. Eine breite Diskussion über die hohen Opferzahlen war zu keiner Zeit gewünscht, wirft sie doch auch die Frage nach dem stalinistischen Umgang mit der eigenen Bevölkerung auf – eine Frage, die die deutsche Verantwortung für die Massenverbrechen in der Sowjetunion in keiner Weise relativiert.
„Historische Wahrheit“ und Pluralisierung der Erinnerung
In den letzten drei Jahrzehnten ist eine schrittweise Pluralisierung der Erinnerung an den Krieg zu beobachten, die auf allen Ebenen stattfindet. In der Wissenschaft und den sozialen Medien, durch zivilgesellschaftliche Organisationen und staatliche Institutionen werden Opfergruppen, die in der Sowjetunion bzw. Russland lange Zeit kaum Beachtung gefunden haben, in die Geschichte integriert. Dies betrifft die zivilen Zwangsarbeiter*innen und die Kriegsgefangenen, die in der Sowjetunion mit dem kollektiven Vorwurf des Verrats konfrontiert waren, sowie die Aufarbeitung des Holocaust. Russische Historiker*innen sprechen zu Recht von einer „Revolution der Erinnerung“. Die staatliche Geschichtspolitik nimmt hier in Teilen Forderungen auf, die aus der Zivilgesellschaft kommen, wie etwa ein am 22. Juni 2016 initiiertes deutsch-russisches Regierungsprojekt zum Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen verdeutlicht.
Zugleich wird die staatliche Deutungshoheit über die Geschichte des Zweiten Weltkriegs in den letzten Jahren wieder verstärkt festgeschrieben. Die Volksabstimmung zur Verfassungsänderung im Jahr 2020 diente nicht zuletzt diesem Zweck. Neu aufgenommen in die Verfassung wurde Artikel 67, Absatz 3: „Die Russländische Föderation ehrt die Erinnerung an die Verteidiger des Vaterlandes und stellt den Schutz der historischen Wahrheit sicher. Eine Herabsetzung der Heldentat des Volkes bei der Verteidigung des Vaterlandes wird nicht zugelassen.“ Seit Mai 2021 wird im russischen Parlament erneut ein Gesetzesentwurf diskutiert, der diese „historische Wahrheit“ genauer definiert und ihre Verletzung unter Strafe stellt.
Am 22. Juni zünden die Menschen bereits seit Sowjetzeiten Kerzen an und gedenken ihrer Kriegstoten. Mit dem 80. Jahrestag des Überfalls erfährt das Datum eine Aufwertung im staatlichen Gedenkkalender. Es ist unter anderem ein Versuch, staatliches und familiäres Gedenken zusammenzuführen und über den 22. Juni eine Konsolidierung im Inneren zu befördern.
Dr. Esther Meier ist wissenschaftliche Leiterin des Projekts „Sowjetische und deutsche Kriegsgefangene und Internierte“ am Deutschen Historischen Institut Moskau.