„Der Kreml hat sich kaum Fehltritte geleistet“
Regina Smyth hebt die entscheidende Rolle hervor, die die Kontrolle von Informationen in autoritären Regimen spielt. In ihrem neuesten Buch “Elections, Protest, and Authoritarian Regime Stability. Russia 2008–2020” analysiert sie, wie Putins Regime Wahlen manipuliert und wie Protestbewegungen entstehen.
In den letzten Jahren wurde viel über den russischen Autoritarismus geschrieben. Was trägt Ihr Buch zur Debatte bei?
Präsident Wladimir Putin spielt innerhalb des russischen Systems eine wichtige Rolle, jedoch sollten wir nicht nur auf die russische Führung blicken, wenn wir die Veränderungen verstehen wollen, die sich innerhalb der russischen Gesellschaft vollziehen. Die Fähigkeit der Menschen in Russland, sich zu organisieren und Forderungen an das Regime zu stellen, hat sich entscheidend verändert. Die Forschung hat ihre Aufmerksamkeit zu stark auf Putin gerichtet und deshalb viele dieser Veränderungen übersehen. Das Buch untersucht, wie Staat und Gesellschaft durch ihre wechselseitige Interaktion auf eine Weise beeinflusst werden, die Konsequenzen für die politischen Entwicklungen im Land hat.
Das theoretische Grundgerüst des Buches ist das sogenannte „hybride Wahlmanagement“. Können Sie kurz beschreiben, worum es dabei geht?
Autoritäre Regime kombinieren scheinbar demokratische Institutionen mit Instrumenten und Praktiken, die diese Institutionen verzerren und undemokratisch machen. Ich nenne das „hybrides Wahlmanagement“. Dazu gehört es, Kandidat*innen von der Wahl auszuschließen und Kontrolle darüber auszuüben, welche Parteien zur Wahl zugelassen werden und welche nicht. Solche Schritte stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit den Wahlen, werden jedoch von den Wähler*innen nicht wahrgenommen, da sie den eigentlichen Wahlen oft Jahre vorausgehen.
In Russland ist dieses Wahlmanagement besonders drakonisch. Jede tragfähige Opposition soll von der Teilnahme an den Wahlen ausgeschlossen werden. Das wirkt sich auch auf die Strategie der Opposition aus. Für sie geht es bei den Wahlen nicht mehr darum, möglichst viele Sitze zu gewinnen, sondern den Menschen den wahren Charakter des Regimes vor Augen zu führen. Deshalb politisiert die Opposition jeden einzelnen Schritt des Wahlvorgangs, um den Menschen in Russland deutlich zu machen, welche Strategien das Regime dafür nutzt, den eigenen Wahlsieg sicherzustellen.
Informationen spielen in Ihrem Argument eine Schlüsselrolle. Sie sagen, dass Informationen „handlungsleitend“ sein müssen. Was meinen Sie damit?
Wird Wähler*innen bewusst, dass Parteien und Kandidat*innen willkürlich von den Wahlen ausgeschlossen werden, kann diese Information handlungsleitend werden. Doch die wichtigste Grundlage dafür, dass Informationen handlungsleitend werden können, ist die Unzufriedenheit der Wähler*innen mit dem Regime, und ihre Bereitschaft, sich aktiv für Veränderungen einzusetzen. Nawalny stellt handlungsleitende Informationen zur Verfügung, die es Wähler*innen ermöglichen, ihrer Unzufriedenheit durch „Smart Voting“, also strategisch kluge Wahlentscheidungen, Ausdruck zu verleihen. Dazu hat er eine App entwickelt, die den Wähler*innen anzeigt, welche Kandidat*innen jeweils die besten Chancen besitzen, die Kandidat*innen der Regierungspartei „Einiges Russland“ zu schlagen.
Im Gegensatz dazu sind Informationen über die Manipulation der Medien nicht handlungsleitend, da die meisten Wähler*innen scheinbar ohnehin erwarten, dass die Medien manipuliert sind. Solche Informationen führen deshalb nicht zu einer verstärkten Mobilisierung auf Seiten der Opposition.
Kommt es häufig vor, dass die russische Regierung sich verschätzt und Parteien verbietet, die überhaupt keine Gefahr für sie darstellen, andere, gefährlichere Gegner aber übersieht?
Der Kreml hat sich kaum Fehltritte geleistet, vor allem in der Ära Putins. Das liegt an der großen Menge an Informationen, die er auf Distriktebene über die Wähler*innen sammelt. Zudem nutzt der Kreml die Manipulation von Wahlkreisgrenzen (gerrymandering), um gleichgesinnte Wähler*innen zu bündeln und Oppositionswähler*innen auf verschiedene Wahlkreise zu verteilen, sodass ihre Chancen auf eine Mehrheit in den einzelnen Wahlkreisen verringert werden. Die russische Regierung schaut genau darauf, welche Probleme die Wähler*innen in den unterschiedlichen Distrikten beschäftigen, und versucht, auf die Beschwerden der Menschen zu reagieren oder sie an Gouverneure oder regionale Beamte weiterzuleiten.
Sind im Hinblick auf die nächsten russischen Präsidentschaftswahlen im Jahr 2024 bereits Bemühungen des Regimes und der Opposition erkennbar, handlungsleitende Informationen zu streuen?
Das Regime versucht weiterhin, Informationen zu blockieren, die sich handlungsleitend auswirken könnten. Es manipuliert die sozialen Medien und erschafft eine von den staatlichen Medien kontrollierte Blase. Außerdem wurde Alexej Nawalny vom Staat verhaftet, weil er unzufriedenen Wähler*innen handlungsleitende Informationen zur Verfügung stellen möchte, damit sie strategisch kluge Wahlentscheidungen treffen können. Wir wissen, dass die Umfragewerte der Regierungspartei „Einiges Russland“ relativ niedrig und viele Menschen mit der anhaltenden Inflation, insbesondere den steigenden Nahrungsmittelpreisen, unzufrieden sind. Die Smart-Voting-Strategie versucht, sich diese Unzufriedenheit zunutze zu machen und die Stimmen der Opposition hinter bestimmten Kandidat*innen zu vereinen. Nawalnys Team rekrutiert neue Mitarbeiter*innen, um in allen Wahlkreisen Smart Voting zu ermöglichen. Sie sollen Informationen sammeln und die notwendige Infrastruktur aufbauen, um Wähler*innen effektiv mit Informationen versorgen zu können.
Ist das hybride Wahlmanagement, das Sie am russischen Beispiel beschreiben, auch auf andere Fälle wie zum Beispiel die Wahlen in Belarus im letzten Jahr anwendbar?
Der von mir entwickelte theoretische Rahmen lässt sich verallgemeinern. In Belarus gab es mehrere Quellen handlungsleitender Informationen. Erstens sagten sich einige zunächst regierungsnah erscheinende Kandidat*innen vom Regime los. Sie versuchten, sich zur Wahl aufstellen zu lassen, wurden jedoch ausgeschlossen. Informationen zu den Vorgängen waren der breiten Öffentlichkeit zugänglich. Sie machten deutlich, dass es Eliten innerhalb des Systems gab, die Lukaschenkas Präsidentschaft infrage stellten. Zweitens verbreitete die Familie der Oppositionskandidatin Swjatlana Zichanouskaja handlungsleitende Informationen. Vor allem sind hier die Bemühungen ihres Ehemanns zu nennen, Wähler*innen in ländlichen Regionen und Kleinstädten zu mobilisieren. Mir scheint es das erste Mal gewesen zu sein, dass Vertreter*innen der Opposition versucht haben, Menschen aus allen Teilen des Landes zu erreichen. Drittens war es wohl ein Fehler Lukaschenkas, Zichanouskaja zur Wahl antreten zu lassen. Er traute ihr nicht zu, die Stimmen der Opposition auf sich vereinen zu können. Tatsächlich erwies sie sich aber als eine bemerkenswerte Kandidatin und schaffte es, eine Allianz mit den Ehefrauen der beiden anderen von der Wahl ausgeschlossenen Kandidaten zu bilden. Die Opposition konnte außerdem im Zuge der Wahlen die Bevölkerung immer wieder mit Informationen über die wahre Natur des belarusischen Regimes versorgen. Wenn Regime es nicht schaffen, die öffentliche Wahrnehmung zu steuern und von den Problemen des Systems abzulenken, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich mit einer vereinten Opposition konfrontiert sehen.
Das Gespräch führte Henri Koblischke, studentische Hilfskraft im Bereich Kommunikation des ZOiS.
Regina Smyth ist Professorin für Politikwissenschaft an der Indiana University. Sie forscht zu Staat-Gesellschaft-Beziehungen in autoritären Regimen mit einem besonderen Fokus auf die Russische Föderation.
Regina Smyth, "Elections, Protest, and Authoritarian Regime Stability. Russia 2008–2020" (2020). Cambridge University Press.