Der ukrainische Präsident gewinnt durch Covid-19 Zeit
Schwere Krisen wie wirtschaftliche Rezessionen und Kriege führen häufig zu einem sogenannten „Rallying around the flag“-Effekt, der die Bevölkerung hinter der Regierung vereint und den jeweiligen Amtsinhaber*innen zugutekommt. Die Covid-19-Pandemie könnte, zumindest in manchen Ländern, eine Krise dieser Art sein. Der Staat genießt als Akteur momentan eine größere, allgemeine Sichtbarkeit. Dies zeigt sich etwa bei der Umsetzung von Grenzkontrollen, in der gestärkten Rolle der Exekutive und in einer politischen Rhetorik, die die Sicherheit der Bürger*innen betont. Gleichzeitig neigen Pandemien dazu, staatliche Schwächen offenzulegen, zum Beispiel einen Mangel an institutioneller Leistungsfähigkeit, Ressourcen und kommunikativer Kompetenz.
Die Ukraine eignet sich in dieser Hinsicht für eine interessante Fallstudie, da das Land mehrere Krisen gleichzeitig erlebt, darunter auch den anhaltenden Krieg in der Donbasregion im Osten des Landes. Hinzu kommt, dass die Zustimmungswerte des Präsidenten Wolodimir Selenskij, der mit 73 Prozent der Stimmen in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahl 2019 einen erdrutschartigen Sieg davontrug, vor Beginn der Pandemie schrittweise gesunken waren.
Unterstützung für den Umgang des Präsidenten mit Covid-19
Um mehr über die Einstellungen der ukrainischen Gesellschaft gegenüber den Regierenden zu erfahren, wurden im Rahmen des Gemeinschaftsprojekts “Identitäten und Grenzen im Wandel” (IBIF) unter Beteiligung des ZOiS neue Daten erhoben. Vom 22. bis 24. April führte das Kiewer Internationale Institut für Soziologie im Rahmen dieses Projekts eine landesweite, repräsentative Telefonumfrage unter Ukrainer*innen durch. Nicht Teil der Erhebung waren die Bürger*innen der Krim, die im März 2014 von Russland annektiert wurde, und der Gebiete des Donbas, die derzeit nicht unter Kontrolle der Regierung stehen.
Der Umfrage zufolge waren 55 Prozent der Bevölkerung der Meinung, dass Selenskij die Covid-19-Krise “sehr gut” oder “ziemlich gut” gemeistert habe. Diese Meinung wurde unabhängig davon vertreten, in welcher Region die Befragten lebten. Diejenigen, die das Vorgehen des Präsidenten befürworteten, berichteten auch von einer stärkeren Furcht vor Covid-19.
Frauen, jüngere Befragte, und jene mit höherem Einkommen standen mit einer höheren Wahrscheinlichkeit hinter Selenskijs Pandemiemanagement. Dass sich die Unterstützung unter jungen im Vergleich zu älteren Menschen als stärker erwies, ist kontraintuitiv, da Ältere durch die Pandemie im Allgemeinen einer höheren Gefahr ausgesetzt sind.
Die wachsende Bedeutung lokaler Verwaltungen
Ein weiterer, beachtenswerter Trend, der sich in den Daten zeigt, ist das hohe Maß an Vertrauen in Lokalverwaltungen. 56 Prozent der Ukrainer*innen unterstützten das Krisenmanagement der führenden Beamten in den Städten, Dörfern und neugeschaffenen Kommunen – ohne signifikante geographische Unterschiede innerhalb der Ukraine. Das Vertrauen in lokale Behörden war bereits in den Jahren vor dem Ausbruch von Covid-19 während der ambitionierten, ukrainischen Dezentralisierungsreformen allmählich gestiegen. Dieser Trend hält während der aktuellen Krise weiter an.
Im Vergleich dazu fiel es einem größeren Anteil von etwa 40 Prozent der Bevölkerung schwer, zu sagen, wie der ukrainische Premierminister Denis Schmigal die Krise gehandhabt habe. Er trat erst im März 2020 sein Amt an, weshalb seine Politik schwieriger zu beurteilen ist. Diese Zahl bestätigt jedoch zwei breitere Trends: Auf der nationalen Ebene wird die Regierung vom Präsidenten in den Schatten gestellt; und aus der Perspektive der Bürger*innen bietet die lokale Verwaltung einen konkreteren Bezugspunkt als die nationale Exekutive.
Zustimmungswerte und Wahlabsichten sind nicht dasselbe
Die Ansichten darüber, wie gut der Präsident mit Covid-19 umgeht, deuten darauf hin, dass in der Ukraine ein vereinigender Effekt wirksam ist. Dieser Effekt hat jedoch seine Grenzen. Ob die Menschen den Umgang des Präsidenten mit der Pandemie befürworten, ist von ihren Wahlabsichten zu unterscheiden.
Selenskij ist immer noch der beliebteste Präsidentschaftskandidat: 28 Prozent der Ukrainer*innen sagten, dass sie, wären heute Wahlen, für ihn stimmen würden. Etwa 9 Prozent gaben an, dass sie seinen wichtigsten Konkurrenten, den früheren Präsidenten Petro Poroschenko, bevorzugen, und etwa 8 Prozent unterstützten Jurij Boiko vom Oppositionsblock. Bislang haben die Wähler*innen also keine tragfähige Alternative zu Selenskij gefunden.
Frauen, jüngere Befragte und wohlhabendere Menschen erklärten der Umfrage zufolge eher ihre Absicht, für Selenskij zu stimmen. Bei den Wahlabsichten offenbarten sich im Gegensatz zu den Meinungen über das Krisenmanagement des Präsidenten jedoch auch regionale Unterschiede. Insgesamt zeigte sich, dass Befragte aus der Westukraine mit einer deutlich geringeren Wahrscheinlichkeit Selenskij bevorzugten als Befragte aus der Mitte, dem Süden oder dem Osten des Landes.
Allgemeine Wahlabsichten lassen sich jedoch nicht direkt mit der entscheidenden Stichwahl in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahl 2019 vergleichen. Die Umfrageergebnisse legen eher eine Rückkehr zum Status vor den Wahlen nahe, da sich in ihnen Trends widerspiegeln, die sich bereits in Umfragen vor der ersten Runde der Wahl zeigten.
Sozioökonomische Konsequenzen
Die Umfrage gibt mithilfe konkreter Beispiele, was sich die Haushalte der Befragten leisten können und was nicht, auch Einblicke in den Lebensstandard der Ukrainer*innen. Neun Prozent der Bevölkerung ordneten sich der niedrigsten sozioökonomischen Kategorie zu und beschrieben, dass sie sogar Schwierigkeiten hätten, für Nahrungsmittel aufzukommen. Zweiundzwanzig Prozent sahen sich zwar in der Lage dazu, tägliche Ausgaben zu decken, fanden es jedoch schwierig, genug Geld für Kleidung aufzubringen. Weitere 28 Prozent gaben an, dass sie über ausreichend Mittel verfügen würden, um Grundbedürfnisse zu erfüllen, aber für größere Haushaltsgeräte, wie einen Fernseher oder einen Kühlschrank, sparen müssten.
Diese Zahlen verdeutlichen, wie fragil die Ukraine in sozioökonomischen Belangen bereits zu Beginn der Pandemie war. Mindestens ein Drittel der Bevölkerung werden die bevorstehenden, sozioökonomischen Auswirkungen der Krise besonders hart treffen.
Insgesamt legen die Daten nahe, dass sich die vereinende Wirkung der Pandemie in der Ukraine darauf beschränkt, Selenskijs Zustimmungswerte vorübergehend einzufrieren. Selenskijs Beliebtheit war bereits vor der Pandemie schrittweise gesunken, auch wenn sie noch deutlich über der von Poroschenko nach dem ersten Jahr seiner Präsidentschaft lag.
Die sozioökonomischen Folgen von Covid-19 werden diesen Trend wahrscheinlich verstärken. Im Vergleich dazu scheint das Vertrauen in lokale Institutionen weiter zu wachsen. Wie sich die Krise auf die Wahrnehmungen staatlicher Leistungsfähigkeit auswirkt, unterscheidet sich demnach auf nationaler und lokaler Regierungsebene.
Gwendolyn Sasse ist wissenschaftliche Direktorin des ZOiS. Dieser Text ist in Kooperation mit den IBIF-Projektpartner*innen Henry Hale von der George Washington University, Wolodimir Kulik von der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine und Olga Onuch von der Universität Manchester entstanden.