Die Balkanroute: Europäische Grenzpolitik
Im Sommer 2015 blickte die Welt gebannt auf Südosteuropa. Der Grund: Eine große Anzahl Menschen überquerte die Grenzen der Region, um in eines der westeuropäischen Länder zu gelangen, in erster Linie nach Deutschland. Plötzlich – auch wenn Menschen schon seit Jahren im Mittelmeer ertranken – wurde von einer „europäischen Flüchtlingskrise“ gesprochen.
Es folgten Monate miteinander verbundener und widersprüchlicher Maßnahmen, Prozesse und Ereignisse. Die Dynamik des Geschehens entlang der Balkanroute änderte sich je nach Stand der jeweiligen Grenzübertrittsbestimmungen: Die Schließung der ungarisch-serbischen Grenze im September 2015 verschob die Route in Richtung der serbisch-kroatischen Grenze, und die „offizielle“ Schließung der Balkanroute im März 2016 führte dazu, dass viele Menschen in Ländern strandeten, die sie auf ihrem Weg zu den (potentiellen) Zielländern nie hatten durchqueren wollen.
Neubewertung Europas an dessen Grenzen
An verschiedenen Orten, beispielsweise im Flüchtlingscamp Idomeni an der griechisch-mazedonischen Grenze, am Busbahnhof im serbischen Belgrad oder dem Budapester Bahnhof Kileti, entwickelte sich eine höchst vielfältige humanitäre und zivilgesellschaftliche Aktivität. Menschen, die aus Ländern im Nahen und Mittleren Osten, Zentralasien und Afrika flohen, Ansässige vor Ort, unterschiedliche Aktivist*innen aus ganz Europa, Angehörige der Polizei und des Grenzschutzes – sie alle kamen an stark belebten Orten neben Verkehrsknotenpunkten oder an Grenzübergängen zusammen. Diese Räume wurden zum Schauplatz überraschender Allianzen und gemeinsamer Aktionen von Personen mit widerstreitenden Ideologien, von rechts- und linksgerichteten Aktivist*innen wie auch von freiwilligen humanitären Helfer*innen. Bei Letzteren reichte die Palette von Kindern und ehemaligen Studierenden aus dem Nahen und Mittleren Osten, die sich zu Titos blockfreien Zeiten in Belgrad niedergelassen hatten, bis hin zu Rentner*innen, die gegenüber dem ehemaligen Jugoslawien Nostalgie hegen. Gleichzeitig gab es unterschiedliche Forderungen und Auffassungen dazu, wie eine europäische Antwort auf die Flüchtlingskrise aussehen sollte, die nun aufeinanderprallten. Auf der einen Seite gab es Rufe nach einer „Willkommenskultur“, dem Recht auf Bewegungsfreiheit und nach menschlicher Würde. Auf der anderen Seite standen heftige Auseinandersetzungen und eine Politik, die die nationalen Staatsgrenzen vor dem „muslimischen Anderen“ schützen wollte. Und es sollte Schutz vor jenen geben, die „nur migrierten“ und Aufnahme „nicht verdienten“, deren Suche nach einem besseren Leben als illegitim und als zusätzliche Belastung für die schrumpfenden sozialstaatlichen Bedingungen in den westeuropäischen Ländern wahrgenommen wurde. Medienbilder von Tränengaseinsätzen an der ungarischen Grenze und von blutbedeckten Gesichtern überschwemmten die Bildschirme und prägten entscheidend die öffentliche Vorstellung von Europas Grenzen im 21. Jahrhundert als einem umkämpften Spannungsraum.
Das „echte“ Europa und sein „Hinterhof“
Die an der westlichen Balkanroute liegenden Länder beteiligten sich an der Auseinandersetzung über eine europäische Antwort. Einer der interessantesten politischen Effekte, die ich während meines Aufenthalts in Belgrad im Sommer 2015 beobachten konnte, war der, wie sehr Serbiens Politik der offenen Grenzen von Politikern dazu genutzt wurde, den höchst „europäischen“ Charakter des Landes zu formulieren und es dem balkanisierenden Bild eines gewalttätigen und unzivilisierten „Hinterhofs Europas“ gegenüberzustellen. „Es scheint, dass ich der Letzte in Europa bin, der noch gegen Mauern und Zäune ist“, verkündete der damalige serbische Ministerpräsident Aleksandar Vučić bei seinem Besuch in Paris im August 2016. Vučić, einer der wortstärksten Ultranationalisten der 1990er Jahre und heute proeuropäischer Präsident Serbiens – er wurde von der serbischen Soziologin und Politikerin Vesna Pešić treffend als „Populist ohne Ideologie“ charakterisiert – steuerte geschickt durch die europäische Flüchtlingskrise. Indessen wurde auf dem Höhepunkt der Krise der Löwenanteil der aktuellen humanitären Arbeit in Belgrad und im südserbischen Presovo (an der mazedonischen Grenze) von Freiwilligen und zivilgesellschaftlichen Organisationen geleistet. Die Teilung in EU-Staaten und Noch-nicht-Mitgliedern der EU, die auf dem Balkan besteht, hat sich auch darin manifestiert, dass Kroatien Serbien vorwarf, bewusst Migrant*innen an seine Grenzen zu transportieren, und daher im September 2015 für einige Zeit jeden Passagierverkehr zwischen den beiden Ländern unterband.
„Neue“ Balkanroute?
Ende Mai 2018 sorgte ein „neue“ Balkanroute, die durch Albanien, Montenegro, Bosnien, Kroatien und Slowenien führt, in Österreich und anderen europäischen Ländern für Schlagzeilen. Der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz, einer der wichtigsten politischen Befürworter und Nutznießer der Schließung der ersten Balkanroute im Jahr 2016, sagte kürzlich, dass es eine „Frage des Willens“ sei, die neue Balkanroute zu schließen. Er kündigte diesbezügliche Gespräche mit Vertretern der Balkanstaaten an. Wenn auch die steigenden Zahlen der Geflüchteten über die neue Balkanroute nicht mit jenen von 2015 vergleichbar sind und gegenwärtig eher saisonale Schwankungen widerspiegeln, so funktioniert in Mitteleuropa eine demonstrierte Entschlossenheit hinsichtlich einer Kontrolle über die Migration durch den Balkan immer noch als mächtiger politischer Trumpf. Für Menschen auf der Flucht stellt die Balkanroute eine ständige Quelle der Ungewissheit dar, da sie sich auf ihrem Weg durch die wechselnden und immer restriktiveren Grenz-, Migrations- und Asylregelungen hindurch navigieren müssen. Da die konkreten Formen der Umsetzung des neuen auf dem EU-Gipfel erreichten Konsenses zu Migrationsfragen noch abzuwarten bleiben, erscheint es sehr wahrscheinlich, dass die Balkanroute weiterhin ein Raum der Ungewissheit, der (Im)Mobilität und eines Lebens „in der Wartschleife“ sein wird.
Dr. Jelena Tošić forscht und lehrt am Institut für Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien.