„Die Behörden versuchen, hybride heilige Orte entweder zu vereinnahmen und zu kontrollieren, oder sie abzuschaffen“
Tsypylma Darieva ist zusammen mit Florian Mühlfried (FSU Jena) und Kevin Tuite (Universität Montreal) Herausgeberin von "Sacred Places—Emerging Spaces: Religious Pluralism in the post-Soviet Caucasus" (Berghahn, 2018). Das Buch gibt Einblicke in das gegenwärtige religiöse Leben im Kaukasus.
Welche Arten heiliger Orte haben Sie und Ihre Kolleg*innen untersucht, und was hat Sie daran interessiert?
In unserem Buch befassen wir uns mit den weniger beachteten Folgen, die die Entsäkularisierung des postsowjetischen Kaukasus im Bereich der heiligen Orte, der nichtkanonischen, informellen Schreine, der sich wandelnden und hybriden Rituale wie auch jener Diskurse gehabt haben, die gewöhnlich als „volkstümliche Religion“ oder „Volksreligion“ bezeichnet werden. Lokale heilige Orte im Nord- und Südkaukasus haben zwar verschiedene Bezeichnungen, teilen jedoch bestimmte Merkmale. Sie stehen oft mit markanten Örtlichkeiten in Verbindung, etwa mit landschaftlichen Besonderheiten, Schreinen, Gräbern oder Ruinen. Typischerweise stehen sie mit Narrativen in Beziehung, die den jeweiligen Ort mit der Manifestierung einer übernatürlichen Kraft verknüpfen, mit einer Heilung, oder einer Person, die als heilig betrachtetet wird. Diese Orte sind für das lokale soziale Leben und die alltägliche Interaktion von großer Bedeutung, und es kann vorkommen, dass sie sowohl von Christ*innen als auch Muslim*innen genutzt werden. In diesem Sinne können sie als gemeinsame heilige Orte betrachtet werden, die angesichts verschwommener religiöser Trennlinien ein lokales Gefühl der Zugehörigkeit und des Zusammenlebens vermitteln. Dieses Phänomen wird in Studien zu dieser Region, die meist von Nationalismus, ethnischer Konfrontation und Konflikten dominiert werden, oft übersehen.
Sie beschreiben heilige Stätten als einen Ort, an dem sich große und kleine Traditionen kreuzen. Was meinen Sie damit?
Wissenschaftler*innen haben heilige Orte – im Kontrast zu orthodoxen, institutionalisierten Konfessionen – als Stätten der „kleinen Tradition“ beschrieben, einer Tradition, die nicht kanonisch, klein, ländlich, informell und weiblich ist. Zum Beispiel werden sunnitische Moscheen als Teil einer institutionellen „großen Tradition“ interpretiert, die einen männlich dominierten, frommen, religiösen Lebensstil widerspiegelt. Der Schrein stand gleichsam für unterschiedliche Manifestierungen eines volksnahen populären Islam, der von ländlichen Gläubigen praktiziert wird, die der schriftlichen islamischen Lehre nur wenig kundig sind. Wir haben in dieser Unterteilung bedeutsame Defizite feststellen können. Sie verschleiert Interaktionen und vernachlässigt die Veränderungen, die Komplexität und die Vielfalt der Praktiken im Umfeld von Pilgerstätten im heutigen Kaukasus. Ich habe mich damit bereits in meiner Studie zur Verehrung schiitischer Heiliger in Aserbaidschan auseinandergesetzt: Die sogenannten volksreligiösen Praktiken sind keineswegs statisch, sondern wandeln sich ständig und passen sich an die gegenwärtigen Umstände an, die wiederum in erheblichem Maße durch institutionelle staatliche und religiöse Behörden erzeugt werden.
Der Kaukasus hat seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion eine Entsäkularisierung erlebt. Welche Auswirkungen hat das auf die heiligen Orte?
Die Feldstudien, die unsere Autor*innen vorgelegt haben, sind im russischen Nordkaukasus und in allen drei Staaten des Südkaukasus durchgeführt worden, einschließlich der international nicht anerkannten Republik Abchasien. Die Beispiele zeigen, dass heilige Orte zu Stätten der Auseinandersetzung zwischen institutionell gestützten und informellen Akteuren wurden. Es gibt verschiedene Formen der Auseinandersetzung. Die Behörden versuchen, hybride heilige Orte entweder zu vereinnahmen und zu kontrollieren, oder abzuschaffen. Ehemals gemeinsame heilige Orte werden als unrein und abweichend, als häretisch eingestuft. So erzeugen staatliche Institutionen und vom Staat unterstützte Kleriker Narrative, die angemessene Praktiken – Reinigungsriten und performative Praktiken – verlangen, um somit die Kontrolle über informelle und alternative Stätten zu erlangen. Die Kritik an abweichenden und inakzeptablen lokalen Gebräuchen, die an heiligen Orten ausgeübt werden, wird auch von neuen religiösen Puristen wie beispielsweise salafistischen Muslim*innen geäußert.
Welche Rolle spielen die Staaten in diesem Prozess, und welche Unterschiede gibt es innerhalb der Region?
Angesicht der engen wechselseitigen Verbindungen zwischen den institutionalisierten nationalen Religionen und den jeweiligen Staaten des postsowjetischen Kaukasus sind Entsäkularisierungsprozesse gleichzeitig staatsbildende Projekte. Das tritt in Georgien und Armenien sowie – in etwas geringerem Maße – auch im Nordkaukasus und Aserbaidschan zutage. Gleichzeitig aber sind andere Länder bestrebt, ihr säkulares Erbe zu bewahren, in den meisten Fällen im Namen der Bekämpfung des religiösen Extremismus. Im nordwestlichen Kaukasus sind die „Bereinigung“ oder Beseitigung hybrider heiliger Stätten nicht Teil des Entsäkularisierungsprozesses. So stehen beispielsweise in Abchasien volkstümliche Schreine im Zentrum der staatlichen Aufmerksamkeit. Auf der abchasischen Flagge sind sieben Sterne zu finden, die auf die sieben wichtigsten heidnischen Schreine des Landes verweisen, und einer dieser Schreine ist Stätte staatlicher Veranstaltungen. Die Transformation heiliger Orte, der Wettbewerb und die Auseinandersetzung hinsichtlich der richtigen Art und Weise, in der man dort beten und sich verhalten soll, ist bei Weitem nicht nur für den postsowjetischen Kaukasus typisch. Ähnliche Prozesse lassen sich in Zentralasien und auf dem Balkan beobachten.
Was stellt das Foto auf dem Umschlag dar und warum haben Sie es ausgewählt?
Das Foto stellt eine Markierung auf flachen Steinen in den Bergen dar, die auf dem Wallfahrtsweg zu heiligen Orten in Nordgeorgien liegen, und die verhindern sollen, dass Frauen den Schrein betreten. Frauen sollen sich nicht dem Innersten der heiligen Orte nähern, es sei denn, sie sind Mädchen oder Frauen jenseits der Wechseljahre. Dieses Zeichen wird nicht angefochten, doch während die örtlichen Behörden es mit der Begründung beibehalten wollen, dass dies Teil der lokalen Tradition sei, sehen junge Frauen darin eine patriarchale Tradition, die überwunden werden müsse. Florian Mühlfeld sieht das Markante dieses Beispiels in der Art und Weise, wie postmoderne Verteidiger von Traditionen sich regulatorische Instrumente der Georgisch-Orthodoxen Kirche und des Staates angeeignet haben. Das ist eines der wichtigen Elemente jenes Prozesses, den wir in unserem Buch behandeln.
Das Gespräch führte Stefanie Orphal, Leiterin der Kommunikation des ZOiS.
Tsypylma Darieva ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZOiS, wo sie den Forschungsschwerpunkt Migration und Diversität leitet und das Projekt Transformation urbaner Räume und religiöse Pluralisierung im Südkaukasus koordiniert.
Tsypylma Darieva (2018): Sacred Places-Emergent Spaces. Religious Pluralism in the post-Soviet Caucasus, co-edited with Florian Mühlfried and Kevin Tuite, New York: Berghahn Books.