Die Situation der Pamir-Kirgisen nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan
Seit Mai 2021, unmittelbar nachdem die USA und ihre Verbündeten damit begonnen hatten, ihre Truppen aus Afghanistan abzuziehen, hat sich die Sicherheitslage in Afghanistan enorm verschlechtert. Die radikal-islamischen Taliban-Kämpfer haben nun wieder die Macht im Land übernommen. Zahllose Menschen sind in den benachbarten Regionen auf der Flucht. Vor allem Frauen und Menschen, die für die ausländischen Kräfte gearbeitet haben, fürchten um ihr Leben. Auch die Zukunft der sogenannten Pamir-Kirgis*innen, die zwischenzeitlich vor den Taliban geflüchtet, von den tadschikischen Behörden jedoch in ihren Heimatort zurückgeschickt worden waren, ist ungewiss.
Ethnische Kirgis*innen in Afghanistan
Die Pamir-Kirgis*innen sind Nachkommen von Kirgis*innen, die aufgrund diverser Bedrohungen und Vertreibungen von 1575 bis 1930 nach Afghanistan zogen. Heute bewohnen sie den „Wakhan-Korridor“, einen schmalen Landstreifen zwischen Tadschikistan, Pakistan und China, in dem sich Bergschluchten mit schwer zugänglichen Tälern abwechseln. Aufgrund ihrer geographischen Isolation war diese Gruppe praktisch nicht von der Sowjetisierung betroffen, konnte daher die traditionelle Lebensweise der Nomaden weitgehend beibehalten und auch ihre Sprache, ethnische Identität und islamische Glaubensrichtung bewahren. Im rauen Gebiet des Großen und Kleinen Pamirs betreiben die Wakhan-Kirgis*innen Viehzucht und leben unter schwierigen Bedingungen. Bis 1973 waren sie mit etwa 10.000 Menschen eines der offiziellen Völker der afghanischen Republik, die sich als staatlicher Grenzdienst verpflichteten, in diesem Gebiet den Schutz der afghanischen Staatsgrenze zu gewährleisten. (Die meisten von ihnen besitzen keine Staatsangehörigkeit bzw. sind staatenlos.) Seitdem ist ihre Zahl aufgrund der äußerst instabilen gesellschaftspolitischen Lage aufgrund andauernder Konflikte und Gewalt während der ersten Talibanherrschaft stark zurückgegangen. Eine gewisse Rolle spielte dabei der Massenexodus mehrerer Großstämme afghanischer Kirgis*innen nach Pakistan, Kanada und in die Türkei, wo sie als Flüchtlinge aufgenommen wurden. Schätzungen zufolge leben heute noch zwischen 700 und 2.000 Pamir-Kirgis*innen in Afghanistan.
Umziehen oder bleiben?
Schon seit 2012 versucht die Regierung in Kirgistan, die Kirgis*innen aus Afghanistan im Zuge eines Rückkehrprogramms in ihre historische Heimat umzusiedeln. Nach mehreren Expeditionen und Gesprächen mit Vertretern der Regierung und den Gemeindeführern der afghanischen Seite gingen zwischen 2017 und 2020 mehrere Gruppen der Pamir-Kirgis*innen nach Kirgistan. Einige von ihnen kehrten jedoch schon kurze Zeit später nach Afghanistan zurück. Der kirgisische Präsident Sadyr Dschaparow beabsichtigt seit seinem Amtseintritt, „das Volk zu vereinen“. Dennoch teilten bisher nicht alle afghanischen Kirgis*innen den Wunsch, ihre Heimat zu verlassen. Sie erwarteten von der kirgisischen Regierung finanzielle und materielle Unterstützung sowie Klärung der Autonomie mit der afghanischen Regierung, die nun nicht mehr an der Macht ist. Die Umsiedlungsgegner*innen vertraten die Meinung, dass die afghanischen Kirgis*innen die von ihnen bewohnten Gebiete aufgrund ihrer geostrategischen Bedeutung behalten sollten. Darüber hinaus neigten einige unabhängige Expert*innen zu der Annahme, dass ihre Umsiedlung zu einer gewissen Destabilisierung der Lage sowohl in ihrem Ausreisegebiet als auch in ihrem Ankunftsbereich führen könnte. Angesichts der aktuellen Entwicklung gibt es die Befürchtung, dass die Gebiete aufgrund ihrer strategisch günstigen Lage zwischen Tadschikistan und Pakistan nun als neue Brutstätte des Terrorismus dienen könnten.
Ungewisse Zukunft unter den Taliban
Nachdem mit dem Abzug der US-Truppen die Taliban mehrere Gebiete in Afghanistan besetzten und tausende Zivilist*innen in die Flucht trieben, sind Mitte Juli etwa 345 afghanische Kirgis*innen in das benachbarte Tadschikistan geflohen. Sie wurden zunächst in der Region Murghab untergebracht, das ebenfalls von ethnischen Kirgis*innen bewohnt wird. Das kirgisische Außenministerium hat sich an das Regionalbüro des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) in Zentralasien gewandt und Unterstützung bei der Evakuierung ethnischer Kirgis*innen aus Tadschikistan beantragt. Knapp eine Woche später berichtete die tadschikische staatliche Nachrichtenagentur Khovar unter Berufung auf das Staatliche Komitee für nationale Sicherheit Tadschikistans, dass die geflüchteten Pamir-Kirgis*innen zusammen mit ihren viertausend Stück Vieh und den Transportmitteln nach Afghanistan zurückgeführt wurden. Laut dem tadschikischen Staatskomitee für nationale Sicherheit ist ihre persönliche Sicherheit von der afghanischen Regierung garantiert worden, außerdem sei die Lage an der Grenze zwischen Tadschikistan und Afghanistan unter der Kontrolle von tadschikischen Grenzsoldaten.
Allerdings bleibt unklar, wie die Rückkehr der afghanischen Kirgis*innen vor dem Hintergrund bewaffneter Zusammenstöße zwischen afghanischen Truppen und den Taliban überhaupt erfolgt ist und wie die inzwischen gestürzte Regierung ihre Sicherheit in der jetzigen Situation gewährleisten wollte. Das Verhalten der tadschikischen Regierung lässt außerdem befürchten, dass ihnen der Fluchtkorridor nach Norden auch künftig verwehrt bleibt. Bruce Pannier, Zentralasienexperte bei RFE/RL, glaubt, dass die tadschikischen Behörden mit dem Ignorieren des Antrags Kirgistans, die ethnischen Kirgis*innen umzusiedeln, eine Gelegenheit verpasst haben, die Beziehungen zum Nachbarland zu verbessern. Nach dem bewaffneten Zusammenstoß zwischen tadschikischen und kirgisischen Grenzsoldaten zwischen dem 28. und 29. April 2021, bei dem auf beiden Seiten Dutzende Menschen getötet wurden, sind die Beziehungen zwischen Kirgistan und Tadschikistan weiterhin angespannt.
Die Taliban-Kämpfer haben so gut wie alle an die zentralasiatischen Staaten grenzenden Provinzen unter ihre Kontrolle gebracht, aber die Grenzen nicht überschritten. Als die Taliban die Hauptstadt Kabul besetzten, kündigte die kirgisische Regierung die Bereitschaft an, 1200 Pamir-Kirgis*innen aufzunehmen. Dafür müssten diese es allerdings eigenverantwortlich an die kirgisische Grenze schaffen. Bei Evakuierungen, die vom russischen Militär organisiert wurden, wurden etwa 20 kirgisische Staatsangehörige aus Kabul ausgeflogen. Über die Situation der Pamir-Kirgis*innen gab es in den russischen Medien lediglich die Meldung, dass sie als alteingesessenes und muslimisches Volk, das sich nicht in Politik oder Konflikte einmischt, nicht gefährdet seien. Auch ein Vertreter der Pamir- Kirgis*innen erklärte, dass sie zweimal auf ihrem Wohngebiet mit den Taliban-Kämpfern zusammengetroffen seien, die ihnen Sicherheit und sogar künftige Unterstützung zugesichert hätten. Der schwer zugängliche „Wakhan-Korridor“ könnte seinen Bewohner*innen gewissen Schutz bieten, könnte aber auch zu einem Gefängnis auf dem „Dach der Welt“ werden, wenn die Sicherheitslage in Afghanistan sich weiterhin drastisch verschlechtern sollte.
Dr. Mahabat Sadyrbek studierte Politik-, Sprach- und Rechtswissenschaften in Bischkek und Hannover sowie European Studies in Brüssel. Ihre Promotion in der Rechtsanthropologie erfolgte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seit 2017 arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung ‚Recht und Ethnologie‘ im Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung in Halle (Saale).