Meet the Author | Alexej Golubev

„Die Vergangenheit ist immer vielfältiger als die Art und Weise, wie wir Geschichte schreiben“

10.12.2020

In “The Things of Life. Materiality in Late Soviet Russia“ untersucht Alexej Golubev Dinge und Orte des Alltags, Kulturgüter und Symbole des Spätsozialismus. Im Interview erklärt der Historiker, worin der Gewinn eines solchen „materialistischen“ Ansatzes zur Erklärung der sowjetischen Zivilgesellschaft besteht.

Alexej Golubev

Mit Blick auf die materielle Welt dreht sich Ihr Buch um die Frage, was das sowjetische Volk sowjetisch gemacht hat. Sie sind in der Sowjetunion aufgewachsen und haben bis zu Ihrem ersten Universitätsabschluss in Russland gelebt. Hatte Ihre Biografie einen Einfluss auf die Entwicklung Ihres objektorientierten Ansatzes? 

Ja und nein. Wissen entsteht dadurch, dass wir alte Erzählungen wiederverwenden oder versuchen, neue zu erfinden. Mein Interesse am "material turn" ist auch ein Ergebnis meiner akademischen Ausbildung. Den Sozialbiographien der Dinge nachzuspüren kann ein hilfreiches heuristisches Mittel sein, um einen neuen Zugang zur sowjetischen Geschichte zu finden. Ein Punkt, der aus meiner Biografie hinzukam, war die große Diskrepanz zwischen den eher engen historischen Erzählungen des Sowjetstaats, das heißt seinem ideologischen Rahmen, und den tatsächlichen historischen Erfahrungen der sowjetischen Bevölkerung. Die Vergangenheit ist immer vielfältiger als die Art und Weise, wie wir Geschichte schreiben. Es kommt nicht besonders oft vor, dass neue Geschichten ihren Weg in die großen historischen Erzählungen finden. Mit meinem Buch habe ich versucht, diese Lücke zu schließen.

Könnten Sie die allgemeine Struktur des Buches beschreiben und Ihre Auswahl der Beispiele kommentieren?

Im ersten Kapitel geht es um die technoutopischen Visionen der poststalinistischen Ära und ihre großen technologischen Objekte, die mit Fortschritt assoziiert sind. Im zweiten und dritten Kapitel beschäftige ich mich mit populären Objekten, die für das sowjetische gebildete, städtische Publikum Geschichte "materialisierten", also greifbar machen sollten: zum einen Modellbau, ein seit den 1930er Jahren immer beliebteres Hobby, zum anderen historische Holzarchitektur, die in den 1960er Jahren zu einem echten Trend in der Denkmalpflege wurde. Kapitel vier befasst sich mit marginalen und transitorischen Stadträumen. In Treppenhäusern und Kellern ist viel passiert, und ich interessiere mich dafür, wie die Menschen sie nutzten und welche Rolle sie in der Organisation des sowjetischen Stadtlebens spielten. Im fünften Kapitel geht es um Bodybuilding: ein Hobby, das als staatsbedrohend angesehen wurde, obwohl die jungen Männer, die es ausübten, sich selbst als loyale Sowjetbürger verstanden, die sich ganz dem Schutz des Systems vor "liberalen Feinden" und regimekritischer Jugend verschrieben. Im sechsten Kapitel geht es um den sowjetischen Fernseher.

Welche politische Bedeutung haben die von Ihnen analysierten sowjetischen Phänomene, wie zum Beispiel der Modellbau als Hobby?

Ich hatte mich gefragt, warum nationalistische Geschichtsauffassungen in Sowjetrussland so stark werden konnten, obwohl damals in den Geschichtsbüchern der Schulen und Universitäten der Klassenkampf und die marxistische Theorie gelehrt wurden. Wenn man sich jedoch das Beispiel des Modellbau-Hobbys ansieht, so gab es ein staatlich gefördertes, sehr gut entwickeltes Netzwerk für außerschulische Aktivitäten an den sogenannten Häusern und Palästen Junger Pioniere. Wenn Kinder dorthin zum Spielen gingen, tauchten sie in Erzählungen von Nationalstolz und militärischem Ruhm ein. Da ein guter Modellbauer sich so viel Wissen wie möglich über sein Modell aneignen sollte, musste er sich auch Militärliteratur vornehmen, und so tauchte man schnell in diese stark national orientierte historische Imagination ein. Das ist interessant: Auf der offiziellen Ebene gibt es die marxistischen Geschichtsnarrative, doch an der "Basis" dieser kulturellen Praxis dominieren die national orientierten, manchmal sogar nationalistischen Erzählungen, und die Objekte wurden zu deren Medium.

Und was die symbolische Dimension der altrussischen Holzarchitektur und ihrer Musealisierung ab den 1960er Jahren betrifft?

Bei den alten Holzgebäuden, vor allem den Kirchen, ist es ziemlich ähnlich: Ich habe Aufsätze sowjetischer Intellektueller studiert, die von der historischen russischen Architektur so fasziniert waren, dass sie ihr ganzes Leben dem Erhalt oder der Popularisierung des Wissens darüber gewidmet haben. Indem sie alte nordrussische Traditionen wie die hölzernen Erbbauten der Region Karelien romantisierten, schufen sie ein idealisiertes Bild der nationalen Vergangenheit, während sie gegenüber Gewalt und Ungleichheit in ihrer historischen Vergangenheit völlig blind blieben.

Sie argumentieren also, dass die Verbreitung bestimmter ideologischer Erzählungen mittels solcher Praktiken noch tiefer in die kollektive Vorstellungskraft eindringen?

Ja. Und das ist vor allem in der Denkmalarchitektur als Bewegung ganz offensichtlich. Die Menschen, die sich für den Schutz des architektonischen Erbes einsetzen, verwenden heute die gleichen Erzählungen, die Mitte des 20. Jahrhunderts von den frühen Enthusiast*innen der Architekturerhaltung entwickelt wurden. Obwohl mein Buch nicht von der postsowjetischen Zeit handelt, unternehme ich einige Exkurse in die Gegenwart. Was ich unter anderem erhellen wollte, war das Verhältnis zwischen der späten Sowjetunion und dem heutigen Russland. Warum gibt es so viele Kontinuitäten zwischen den beiden Staaten? Die gesellschaftlichen Strukturen haben sich radikal verändert, und natürlich auch die politischen. Die Kontinuität besteht vor allem in den symbolischen Strukturen, die sowohl die sowjetische als auch die postsowjetische gebildete Klasse benutzen. Die architektonische Denkmalpflege, einschließlich ihrer Diskurse, ist ein gutes Beispiel, aber ebenso die Früherziehung und Grundschulbildung von Kindern.

Meine Erkenntnisse sind beeinflusst von, und überschneiden sich in gewisser Weise, mit dem, was Karl Marx in "Der achtzehnte Brumaire von Louis Napoleon" feststellt. Er argumentiert, der Grund, warum die französische Landbevölkerung Napoleons Neffen, Napoleon III, unterstützte, sei nicht, dass Frankreich dieselbe Republik wie zur Zeit Napoleons war. Frankreich hatte sich verändert. Was sich nicht verändert hatte, waren die symbolischen Strukturen der französischen Politik. Obwohl sich die soziale Struktur der französischen Gesellschaft Mitte des 19. Jahrhunderts radikal anders gestaltete als ein halbes Jahrhundert zuvor, wurden die gleichen Erzählungen wiederverwendet. Vieles davon erkenne ich auch im postsowjetischen Russland wieder.

Das Gespräch führte Eva Murasov, Hospitantin im Bereich Kommunikation des ZOiS.


Alexey Golubev ist Assistent Professor für Geschichtswissenschaften an der University of Houston, mit einem Schwerpunkt auf der Sozial- und Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts in Russland. 2006 erwarb er seinen Abschluss als Cand.Sc. (kandidatskaya) an der Universität Petrozavodsk, Russland, und promovierte 2016 an der University of British Columbia. Im akademischen Jahr 2020-21 ist er Joy Foundation Fellow am Radcliffe Institute for Advanced Study an der Harvard University.

Alexey Golubev, “The Things of Life. Materiality in Late Soviet Russia“ (2020). Cornell University Press