ZOiS Spotlight 39/2020

Georgien auf dem Weg zur Verhältniswahl

Von Diana Bogishvili 28.10.2020
Wahlplakate für die Parlamentswahlen am 31. Oktober 2020 in Georgien. © Elene Gavashelishvili

Vor 30 Jahren, am 28. Oktober 1990, vierzehn Monate vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion, hielt Georgien die erste freie Mehrparteienwahl ab. Die Wahl fand nach massiven Protesten von Oppositionsparteien für die Unabhängigkeit des Landes statt und war der entscheidende Schritt in der Loslösung Georgiens von der Sowjetunion. Ein gemischtes Wahlverfahren aus Mehrheits- und Verhältniswahl entschied damals zu gleichen Teilen über die Sitzverteilung im Parlament.

Das derart gemischte Wahlsystem wurde drei Jahrzehnte lang beibehalten. In diesem Jahr, am 31. Oktober, werden die Parlamentswahlen erstmals überwiegend in einem proportionalen System abgehalten. Von 150 Sitzen im Parlament werden 120 nach Verhältniswahl verteilt, die restlichen 30 nach dem Mehrheitssystem.

In Georgien fordert die Opposition seit langem einen vollständigen Übergang zu einem Verhältniswahlsystem. Ihre Kritik liegt darin, dass die Regierung das Mehrheitswahlrecht zu ihrem Vorteil nutzte. So verwendeten ausgewählte regierungsnahe Geschäftsleute oft große Geldsummen, um finanziell ungleich schwache Oppositionskandidat*innen leicht zu besiegen. Infolgedessen konnte die Regierung mithilfe dieser Mandate meistens eine verfassungsmäßige Mehrheit im Parlament gewinnen. Bei den letzten Parlamentswahlen 2016, bei denen weniger als die Hälfte der Stimmen im Verhältniswahlrecht zählte, gewann die Regierungspartei „Georgischer Traum“ 122 Sitze.

Die Regierung hatte demnach keine Absicht, das Mischwahlverfahren abzuschaffen. Erst nachdem im Juni 2019 wochenlange massive Proteste das Land ergriffen hatten, sah sich der Vorsitzende des Georgischen Traums, Bidsina Iwanischwili, gezwungen, den Protestierenden Zugeständnisse zu machen und versprach, die Verhältniswahl einzuführen. Drei Monate später machte Präsidentin Salome Surabischwili der internationalen Gemeinschaft während ihrer Rede vor den Vereinten Nationen ein ähnliches Versprechen. Es wurde jedoch bald klar, dass die Regierung ein entsprechendes Gesetz wieder kippen würde, da die erforderliche Mehrheit im Parlament nicht zustande kam. Am 25. November 2019 erklärte der Generalsekretär des Georgischen Traums und Bürgermeister von Tiflis, Kacha Kaladse, dieses Thema offiziell für „geschlossen“. Dieses Vorgehen der Regierung hat zu einer beispiellosen Einheit der Oppositionsparteien in Bezug auf die Einführung des proportionalen Wahlsystems geführt. Es kam zu Protesten von Tausenden von Menschen vor dem georgischen Parlament, bei denen zahlreiche Oppositionelle festgenommen wurden. Der angespannten Situation folgten intensive Bemühungen der Europäischen Union und der Vereinigten Staaten, eine Lösung für den Wahlrechtskonflikt zu finden, um die Stabilität im Land aufrechtzuerhalten. Schließlich endeten die langwierigen Verhandlungen unter direkter Beteiligung des EU-US-Botschafters mit einem Kompromiss. Gemäß der am 8. März 2020 zwischen dem Georgischen Traum und der Opposition unterzeichneten Vereinbarung steigt die Zahl der proportional gewählten Sitze von 77 auf 120. Darüber hinaus wurde die Sperrklausel für Parteien von fünf Prozent auf ein Prozent gesenkt.

In Erwartung einer Koalitionsregierung

Die Wahlen in Georgien 2016 spiegelten hauptsächlich eine Konfrontation zwischen zwei politischen Kräften wider. Auf der einen Seite stand die derzeitige Regierungspartei Georgischer Traum mit dem Vorsitzenden und Milliardär Bidsina Iwanischwili, auf der anderen Seite die vorherige Regierungspartei „Vereinte Nationale Bewegung“ mit dem Vorsitzenden und dritten Präsidenten Georgiens Micheil Saakaschwili. Heute hoffen andere politische Parteien, dass das neue Wahlsystem dazu führt, die bedingungslose Dominanz der beiden genannten Kräfte zu brechen. Dabei wird erwartet, dass das neue Wahlsystem es relativ schwachen politischen Kräften ermöglicht, aktiver zu werden und eine wichtigere Rolle bei der Regierungsbildung im Parlament zu spielen. Die Opposition hofft, dass infolge der Stärkung des Proportionalitätssystems die faktische Einparteienherrschaft in Georgien endet, der Georgische Traum keine Mehrheit mehr im Parlament erreicht und eine Koalitionsregierung unter Beteiligung der Oppositionsparteien gebildet wird.

Wie realistisch sind solche Erwartungen? Einerseits scheint der Georgische Traum geschwächt, da er ohne Koalitionspartner in die anstehenden Wahlen geht. Viele ehemalige Verbündete kandidieren entweder unabhängig oder haben sich den Gegnern der Regierungspartei, die sich unter dem Namen „Stärke in Einigkeit“ zu einer Oppositionskoalition vereint haben, angeschlossen.  Andererseits ist es im Moment offen, wie groß der Verlust für den Georgischen Traum wirklich sein wird und ob er für die Opposition einen Gewinn darstellen wird. Dies zu klären liegt nun bei den Wähler*innen.

Die Macht der unentschlossenen Wähler*innen 

Den letzten Wahlumfragen zufolge beabsichtigt die Mehrheit der Bevölkerung, an den Parlamentswahlen im Oktober teilzunehmen (88 Prozent), obwohl viele noch nicht entschieden haben, wen sie wählen wollen (59 Prozent). Die Befragten berücksichtigen bei der Wahl der bevorzugten Partei in erster Linie die Wirtschaftspolitik (36 Prozent), mit Abstand gefolgt von der Gesundheitspolitik (12 Prozent) und der Rechtstaatlichkeitspolitik (12 Prozent), da sie die Themen Beschäftigung (49 Prozent), Armut (39 Prozent) und Preiswachstum/Inflation (20 Prozent) für die drängendsten halten.

Eine solche Fülle unentschlossener Wähler*innen ist sowohl eine Herausforderung als auch eine Chance für die Parteien. Laut dem Direktor des georgischen Büros des National Democratic Institute, Alan Gillam, sollen die Kandidat*innen hart arbeiten, um Lösungen für die Probleme der Bürger*innen anzubieten. Schließlich sagen die Umfragen wenig über die zu erwarteten Ergebnisse aus. Das Schicksal der Wahl in Georgien wird vom Verhalten der unentschlossenen Wähler*innen abhängen.


Diana Bogishvili ist Soziologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZOiS.