Georgiens informelle Zivilgesellschaft: Ein Blick hinter die Kulissen
Die Zivilgesellschaft in postsowjetischen Staaten galt lange Zeit als überwiegend schwach herausgebildet. Auch Georgien bildet hier keine Ausnahme. Das sowjetische Erbe und die weit verbreitete Korruption haben dazu geführt, dass das Misstrauen gegenüber politischen und formalen Institutionen in der georgischen Gesellschaft fest verankert zu sein scheint. Jüngste Umfragewerte des National Democratic Institute (NDI) und der Caucasus Research Resource Centers (CRRC) zeigen, dass fehlendes Vertrauen in formale Institutionen, einschließlich Nichtregierungsorganisationen (NGOs), noch immer weit verbreitet ist. Dennoch wäre es eine vereinfachte Sichtweise, von einer schwachen Zivilgesellschaft auszugehen.
Nach dem Zerfall der Sowjetunion war das Land von einer externen Demokratisierung durch internationale Organisationen gekennzeichnet. Eigens gegründete zivilgesellschaftliche Zusammenschlüsse in Georgien traten erst mit der Rosenrevolution 2003 verstärkt in den öffentlichen Diskurs. Auch wenn sich die Zivilgesellschaft in Georgien seitdem weiterentwickelt hat, scheinen international agierende NGOs die zivile Landschaft nach wie vor zu dominieren, wodurch sich das Bild von einem zivilen Engagement mit externer Agenda bis heute hält.
Dabei wird häufig übersehen, dass gegenseitige Nachbarschaftshilfe und lokale Zusammenschlüsse in Georgien eine lange Tradition haben. Unterstützung bei der Hausarbeit, der Kinderbetreuung, beim Einkauf für ältere Mitmenschen oder nachbarschaftliche Initiativen im Bereich Umwelt und Bürgerrechte sind einerseits Ausdruck von Hilfsbereitschaft und Gemeinsinn. Zum anderen beschreiben sie aber auch eine informell agierende Zivilgesellschaft. Aus alltäglichem Handeln entstehen dadurch Netzwerke, die gemeinschaftliche Lösungen für Probleme auf lokaler Ebene finden. Nachbarschaftsnetzwerke und -initiativen sind zumeist unsichtbar, unbezahlt und mit institutionalisierten zivilen Organisationsformen nicht vergleichbar. Dennoch sind sie wesentlicher Bestandteil der Zivilgesellschaft und ermöglichen Rückschlüsse auf lokale Probleme einer Gesellschaft.
Städtische Basisgruppen – meist unsichtbar, informell und divers
Basisgruppen, auch „Community-based-Organisations“ oder „Self-help CBOs“ genannt, dienten bereits während der Sowjetunion als Ausgleich von strukturellen Defiziten der Planwirtschaft. Sie verschwanden jedoch nicht mit dem Zerfall der Sowjetunion, sondern sind nach wie vor von großer Bedeutung und je nach lokalem Problem sehr divers ausgestaltet.
Mit Blick auf die statistischen Daten zeigt sich, dass die gegenseitige Hilfsbereitschaft bei Alltagsproblemen durch soziale Netzwerke gar gestiegen ist. Die Daten umfassen gegenseitige nachbarschaftliche oder freundschaftliche Hilfe im Haushalt, bei Reparaturarbeiten, finanziellen Problemen oder bei Krankheit. Gleichzeitig können gut etablierte Nachbarschaftshilfen und Unterstützungsgemeinschaften Ausdruck von gesellschaftlich-strukturellen Problemen sein. Basisgruppen schließen sich häufig dort zusammen, wo Lücken in der staatlichen sozialen Versorgung bestehen. Die Hilfe für ältere Menschen in Georgien während der Corona-Pandemie ist ein jüngstes Beispiel für diese Art des gemeinsamen Handelns. In nur zwei Wochen wurden lokale Strukturen online organisiert, wie etwa durch die Gruppe „Let´s help the Elderly“.
Auch Umweltgruppen, die sich in den letzten Jahren vermehrt herausgebildet habe, können Beispiele für Basisgruppen sein. „Guerrilla Gardening Tbilisi“ ist der Name einer städtischen Umweltgruppe, die sich in Georgiens Hauptstadt dafür einsetzt, Grünflächen zu erhalten. Ihre Forderungen wurden vor allem im Zuge von radikalen und langwierigen Protestaktionen gegen den Bau des Budapester Hotels auf dem Gelände des Vake Parks im Jahr 2014 in den öffentlichen politischen Diskurs getragen. Die Gruppe ist weder eine eingetragene Organisation noch wird sie durch externe Akteure finanziert. Auch grenzt sie sich von politischen Akteuren und Parteien ab und umfasst Mitglieder verschiedenen Alters und mit unterschiedlichen beruflichen Hintergründen. Der organisierte zivile Widerstand gegen den Bau des Hotels gilt als einer der erfolgreichsten Fälle von städtischem Basis-Aktivismus in Tbilisi und deutet auf eine neue zivilpolitische Realität auf lokaler Ebener hin.
Eine Basis für gemeinsame Werte
Auch die Angst vor Diskriminierung und gesellschaftlicher Ausgrenzung können Gründe für weniger augenfällige Strukturen von Basisgruppen sein. Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender und Intersexuelle (LGBTI+) stellen in Georgien eine der am stärksten ausgegrenzten und diskriminierten Gruppen dar, die regelmäßig gewalttätigen Angriffen durch konservative Hardliner ausgesetzt sind. Gleichzeitig sind sie häufig die am wenigsten sichtbaren Gruppen, da sie sich aufgrund der Gewalt gegen sie verstärkt in informelle, kaum wahrnehmbare solidarische Netzwerken flüchten. Zwar gibt es insbesondere seit 2002 eine Reihe von Organisationen in Georgien, die sich öffentlich für die Rechte sexueller Minderheiten einsetzt, jedoch sind diese Organisationen mitunter nicht mit Aktivitäten verbunden, die die lokale LGBTI+-Gemeinschaft miteinschließt.
Die Basisgruppe „White Noise Movement“ erlangte im Zuge der Protestaktion „Rave Revolution“ vor dem Parlament in Tbilisi im Mai 2013 mediale Aufmerksamkeit. Der Protest lässt sich als ein reaktives, kollektives Handeln nach Razzien in zwei Nachtclubs einordnen. Obwohl der Grund für diesen Protest nicht in erster Linie darin bestand, die Rechte der LGBTI+-Gemeinschaft einzufordern, ist die Gruppe stark mit liberalen Werten verbunden, die sich unter anderem für die Rechte von sexuellen Minderheiten einsetzt. Ihre Mitglieder verstehen sich als Teil einer sozialen Bewegung, die auf drei Pfeilern aufbaut: LGBTI+-Rechte, Feminismus und die Liberalisierung der repressiven Drogenpolitik. Bis zu den Ereignissen im Jahr 2013 blieb die Gruppe in Georgien weitestgehend unter dem Radar, galt jedoch bereits lange Zeit als ein solidarisches Netzwerk.
Ausdruck aktueller gesellschaftlicher Dynamiken
Bei der internationalen Bewertung einer Zivilgesellschaft sind lokale Basisgruppen und Netzwerke oftmals unterrepräsentiert oder gar außen vor. Dabei lohnt sich eine genauere Betrachtung dieser Initiativen. Sie sind nicht nur eine wichtige Säule inmitten der zivilen Organisationslandschaft und geben Auskunft über neuere und dynamische Entwicklungen, sondern können gleichermaßen strukturelle, gesellschaftliche Problemlagen aufdecken.
Gleichzeitig sind Basisgruppen durch ihre informellen Merkmale nicht leicht zu erkennen und zu erforschen. Ein Blick hinter die Kulissen von Protestaktionen oder auf Strukturen des alltäglichen Handelns können jene Informalität sichtbar werden lassen. Solche Netzwerke und Nachbarschaftshilfen können Ausdruck einer lebhaften Zivilgesellschaft sein, die ein wesentlicher Teil von Demokratisierungsprozessen ist. Zwar sind Georgiens NGOs, insbesondere in der Hauptstadt, weiterhin durch externe Finanzierungquellen beeinflusst, jedoch haben informelle Initiativen ein großes Potenzial, lokale Probleme zu lösen. Bereits bestehende Initiativen bei der externen Förderung des zivilen Sektors zu berücksichtigen kann eine nachhaltig, lokal verankerte Zivilgesellschaft hervorbringen, die zudem das Vertrauen in formale Institutionen stärken würde.
Sina Giesemann ist Sozialwissenschaftlerin (B.A.) und Forschungsassistentin am ZOiS. Sie studiert Geographische Entwicklungsforschung (M.Sc.) an der Freien Universität Berlin und erforscht als DAAD-Stipendiatin in ihrer Masterarbeit die Dynamiken der LGBTI+ Bewegung in Georgiens Hauptstadt, Tbilisi.