Geteilte Lebenswelten von georgischen Migrant*innen in der Corona-Krise
Die Lebenswelt ist die Wirklichkeit, in die der Mensch eingreifen und die er verändern kann. Um sie zu verändern benötigt er freie Handlungsmöglichkeiten und um sich herum mitwirkende Mitmenschen. Biographische Interviews mit jungen georgischen Bildungsmigrant*innen in Deutschland, die am ZOiS während der Maßnahmen zur Einschränkung der Covid-19-Pandemie digital durchgeführt wurden, zeigen, wie die sozialen Folgen der Corona-Krise auf die subjektiven, individuellen Erfahrungswelten der Migrant*innen einwirkten und den Alltag veränderten. Unter den Befragten befinden sich verheiratete und erwerbstätige Studienabsolvent*innen mit dauerhaftem Aufenthalt, alleinstehende Studierende und Personen mit kurzfristigem Stipendienaufenthalt. Allen Befragten gemeinsam ist, dass der gesellschaftliche Stillstand ihr Leben verändert und ihre Alltagsrealität auf den Bildschirm verlagert hat, der seinen Fokus auf zwei Länder gleichzeitig richtet. Dabei ist das Herkunftsland der Ort, an den sie immer wieder zurückkehren wollen, da sie diesem trotz der Migration sehr verbunden sind. Viele sehen sich zudem verpflichtet, ihre Familie zu unterstützen – ein Gefühl, das die Krisensituation noch verstärkt. So sagte eine der Interviewpartnerinnen: „Da ich zwischen zwei Welten lebe, verpflichte ich mich oft dazu, dass ich einen Teil meiner Freizeit mit meinen Eltern verbringe. Sie sind alt. Sie brauchen meine Zuwendung und ich ihre. Sie geben mir die Liebe, die mir hier fehlt.“
Erzwungene Immobilität
Durch die Corona-Einschränkungen wurde vielen der befragten Bildungsmigrant*innen in ihrer Wahrnehmung „die Flügel gestutzt“, da ihre Reisefreiheit stark eingegrenzt wurde. Migrant*innen schreiben der Mobilität eine große Bedeutung für die Aufrechterhaltung familiärer und sozialer Strukturen zu, auch über große Distanzen hinweg. Sie erschließen soziale Felder, indem sie ihr Herkunftsland mit ihrem Aufnahmeland verbinden. Damit bilden sie einen sozialen Raum unabhängig von Grenzen und Territorien. Sie leben in zwei Welten und bewegen sich ständig zwischen diesen. Dass dies in der Corona-Krise nicht mehr ohne Weiteres möglich ist, entzieht den Migrant*innen die Kontrolle über ihre eigenen Entscheidungen und zwingt sie zu einer Immobilität, die ihr Verantwortungsgefühl gegenüber ihren Verwandten in der Heimat stark belastet. Wie eine Interviewpartnerin sagte: „Das Schlimmste, was mir als Migrantin in dieser Zeit passiert, ist, dass ich durch die Grenzschließung plötzlich nicht mehr nach Hause kann. Das ist wie ein Albtraum, nicht handeln zu können.“ Das Herkunftsland identifizieren viele der Migrant*innen nicht nur mit dem Zuhause, in dem sie aufgewachsen sind, sondern das ihnen auch unentbehrliche positive Gefühle vermittelt: „Ich muss oft zu meinen Eltern fliegen, um mich ‚aufzuladen‘. Sie geben mir Liebe und Geborgenheit; ohne diese bin ich leer“, betonte eine der Befragten.
Durch die digitalen Kommunikationsmedien haben sie zwar die Möglichkeit, über geographische Distanzen hinweg mit ihren Familienangehörigen gleichzeitig an zwei Orten zu sein, aber persönliche Besuche sind für sie unabdingbar: „Um uns gut zu fühlen, ist es wichtig, uns gegenseitig anfassen zu dürfen, sich umarmen zu dürfen“, sagt einer der Befragten. Die Ungewissheit, wann sie ihre Familien wiedersehen können, ruft bei vielen der Interviewten ein Gefühl der Angst hervor. Hinzu kommt, dass diejenigen Bildungsmigrant*innen mit einem längeren Aufenthalt und einer eigenen Familie in Deutschland sich wünschen, dass auch ihre Kinder uneingeschränkt die alte Heimat ihrer Eltern besuchen können, um den Kontakt mit den Großeltern zu pflegen und ihre Sprache zu lernen.
Die entschleunigten Möglichkeiten
Für den Soziologen Hartmut Rosa ist das Coronavirus der radikalste Entschleuniger unserer Zeit. Im Gegensatz zu ihm sprachen die Befragten mit befristeten Studienaufenthalt oft über die Entschleunigung von Möglichkeiten. In ihrem Aufenthalt in Deutschland sehen viele von ihnen eine Chance, sich weiter zu entwickeln. Ihr Aufenthaltsstatus und ihre Studienpläne unterliegen bestimmten Fristen, die meistens streng eingehalten werden müssen. Durch die von der Corona-Krise verursachte Ungewissheit kann ein begrenzter Aufenthalt gefährdet werden, indem etwa die angebotene Praktikumsstelle nicht angetreten werden kann, oder das soziale Umfeld wird so sehr eingeschränkt, dass keine neuen Netzwerke gebildet und Kompetenzen erworben werden können. Auch hier sind viele der Befragten der Meinung, dass der digitalisierte oft nicht dem realen Alltag gleichzusetzen ist. Durch die eingeführten Maßnahmen bekommen sie zwar einerseits Zeit für die vermehrten virtuellen sozialen Beziehungen, sowohl im Aufenthalts- als auch im Herkunftsland, aber andererseits halten sie den persönlichen Kontakt und Austausch für ihre Auslandserfahrung für wichtig: „Ich habe ein Auslandsstipendium für zwei Semester in Deutschland. Durch Corona habe ich ein ganzes Semester an der Uni verloren. […] jetzt sitze ich einfach zu Hause und bin bemüht, meine Forschungsarbeit irgendwie fertig zu bringen“, sagte eine Stipendiatin.
Die multilokale Solidarität
Die Befragten sehen wirtschaftliche und soziale Folgen für sich und für das Herkunfts- sowie Aufenthaltsland, die sie noch nicht einschätzen können. Sie sind der Meinung, dass die Menschen in allen Ländern unterschiedlich von dieser Krise betroffen sind. Auch die Wahrnehmung des Problems ist ihrer Meinung nach vielfältig. Viele der Befragten sprachen darüber, wie der Krisenalltag die Bindung gegenüber der zurück gebliebenen Verwandtschaft im Ausland verstärkt. Miteinander digital geteilte Realitäten werden zur Alltagsnormalität, wo die gegenseitige Sorge um die Anderen abrupt steigt und multilokal stattfindet. Daraus entsteht häufig das Gefühl, dass sie in dieser besonderen Situation stärker zueinanderstehen müssen. Somit sehen sie sich zur länderübergreifenden Solidarität verpflichtet, sowohl hier, als auch dort, wo ihre Familienangehörige leben
Soziologin Diana Bogishvili ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZOiS und Doktorandin an der Berlin Graduate School of Social Sciences der Humboldt-Universität zu Berlin. In ihrem Dissertationsprojekt erforscht sie die Auswirkungen sozialer Transfers von georgischen Migrant*innen in Deutschland auf die Gesellschaft im Herkunftsland.