Gewaltspirale an den Grenzen im Ferganatal?
Ende April 2021 kam es im südkirgisischen Gebiet Batken an der Grenze zu Tadschikistan zu einem Konflikt, der kurzzeitig Züge eines Krieges zwischen beiden Staaten annahm. Einen derartigen Clash hat es zwischen zentralasiatischen Staaten noch nie gegeben. Er zeigt, wie sensibel die Situation an den umstrittenen Grenzabschnitten im Ferganatal ist und wie wenig von Seiten der Regierungen Kirgistans und Tadschikistans zur Lösung der Probleme getan wird, die dadurch immer schwieriger wird.
Was ist passiert?
Auslöser der kriegerischen Ereignisse war, dass Tadschiken am 28. April 2021 an einer nach einem komplizierten Mechanismus gemeinsam genutzten Wasserverteilungsstelle an der Grenze zu Kirgistan eine Überwachungskamera installierten. Ihrer Zerstörung durch verärgerte Kirgisen folgten körperliche Auseinandersetzungen und das Erscheinen der Grenztruppen beider Seiten, es fielen Schüsse. Am nächsten Tag drangen tadschikische Truppen mit Hubschraubern und schwerer Artillerie an mehreren, bis zu 70 km voneinander entfernten Punkten, auf kirgisisches Territorium vor, attackierten Grenzposten und beschossen kirgisische Dörfer. Die kirgisischen Truppen reagierten entsprechend. Nachdem sich die Lage beruhigt hatte, wurde am 1. Mai ein Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet. Seitdem ist die Lage angespannt-ruhig.
Die Zahl der Toten wird offiziell mit 55, die der Verletzten mit mehr als 250 angegeben. Rund 60.000 Menschen mussten zeitweise ihre Wohnorte verlassen, mehr als 100 Häuser wurden geplündert und zerstört. Die Verluste auf kirgisischer Seite übersteigen die der tadschikischen um ein Vielfaches.[1]
Grenzprobleme im Ferganatal
Vieles an den Ereignissen ist typisch für Grenzkonflikte im Ferganatal, einer von Hochgebirgen umgebenen, fruchtbaren, 22.000 km² großen Ebene, die seit der Sowjetzeit zwischen Usbekistan, Kirgistan und Tadschikistan aufgeteilt ist. So hält sich der Lauf des lebenswichtigen Wassers nicht an Grenzen, seine Verteilung ist im gesamten Ferganatal ein Konfliktfaktor. Zunehmender Wassermangel verschärfte die Situation in den letzten Jahren noch. Andere Streitfaktoren sind der Zugang zu Weiden und Äckern sowie jede Art von Nutzung eines (noch) nicht definierten Grenzabschnittes durch eine Seite, sei es durch die Pflanzung von Obstbäumen oder die Errichtung eines Heuschobers. Die umstrittene Wasserstelle liegt in so einem zwischen Kirgistan und Tadschikistan umstrittenen Gebiet. Wie in vielen anderen Fällen wurde die Grenze dort in der Sowjetzeit mehrfach verändert und beide Seiten streiten heute über die Frage, welche Linie Grundlage der Delimitierung, sein soll. Diesem Schritt, bei dem die Grenzen auf dem Papier festgelegt werden, muss dann mit der Demarkation noch die sichtbare Umsetzung im Gelände folgen.
Seit 2002 haben über 100 Sitzungen kirgisisch-tadschikischer Grenzkommissionen stattgefunden, bislang sind aber nur ca. 500 der 970 km langen gemeinsamen Grenze delimitiert, 70 besonders schwierige Abschnitte fehlen noch. Neben zahlreichen anderen Gründen dürfte fehlender politischer Wille, sich mit den Problemen der eigenen Peripherie zu befassen, eine große Rolle dabei spielen.
Konflikte an den Grenzen der drei Anliegerstaaten des Ferganatals hat es in den letzten Jahren so häufig gegeben, dass sich schon ein fester Ablauf erkennen lässt. Sie beginnen auf lokalem Niveau mit Beschimpfungen, es folgen Schlägereien, Steinwürfe und Sachbeschädigung. Immer öfter sind dann Grenzsoldaten beteiligt und es fallen Schüsse. In Reaktion fahren Vertreter der Provinzadministration oder sogar ausnahmsweise aus den Hauptstädten an die Grenze, einigen sich mit ihrem counterpart auf der anderen Seite, beruhigen die örtliche Bevölkerung mit Versprechungen und kehren ohne grundsätzliche Lösungen zurück. In vielen Fällen kann man aber eine allmähliche Eskalation beobachten, an der kirgisisch-tadschikischen Grenze wird die Lage an ungefähr einem Dutzend Abschnitten als potentiell explosiv bezeichnet. Dazu gehört auch der Ort, an dem nun der „April-Krieg“ seinen Ausgang nahm. Fachleute haben immer wieder auf eine dort seit 2014 sich bedrohlich verstärkende Gewaltspirale hingewiesen, ohne dass die Regierungen reagiert hätten. Und so erreichten die Auseinandersetzungen eine neue Eskalationsstufe. Erstmals war der Konflikt nicht lokal begrenzt und es wurden schwere Waffen eingesetzt, mit entsprechenden Opfern und Schäden.
Bei der Unterzeichnung des Waffenstillstandes am 1. Mai wurde erklärt, dass sich eine solche Tragödie nie wieder ereignen dürfe. Ein wirkliches Bemühen darum ist aber nicht zu erkennen: Am 21. Mai schloss Kirgistan einseitig seine Grenzen für tadschikische Staatsbürger. Anfang Juni hatten beide Seiten bereits ihre Truppen an einem anderen umstrittenen Grenzabschnitt zusammengezogen und die Bevölkerung evakuiert, als in letzter Minute doch noch ein Ausweg gefunden werden konnte. Bei einem Staatsbesuch des kirgisischen Präsidenten am 28./29. Juni in Duschanbe kamen beide Seiten zumindest wieder ins Gespräch, es gab aber keinerlei Beschlüsse zur drängenden Grenzfrage.
Es steht zu befürchten, dass diese, wie die anderen problematischen Grenzfragen, weit weg von den Hauptstädten von den Regierungen, auch jetzt wieder ignoriert werden – bis eine weitere Eskalation eintritt.
Verlorenes Vertrauen
Die Auseinandersetzungen Ende April sind, wie die meisten Grenzkonflikte im Ferganatal, an einem nicht delimitierten Grenzabschnitt ausgebrochen. Was nicht im Umkehrschluss heißt, dass die Probleme mit dem Abschluss eines bilateralen Grenzvertragesaus Welt geschafft wären: Gerade die jahrelange Verschiebung der Delimitation der Problemfälle hat deren Lösung noch erschwert. Ländliche Überbevölkerung, Land- und Wassermangel, die die Situation an den Grenzen verschärfen, haben in den letzten beiden Jahrzehnten genauso zugenommen wie von den Präsidenten initiierte nationalistische Diskurse, die Empfindlichkeiten gegenüber etwaigen Gebietsabtretungen verstärkten.
Natürlich haben die ständigen Konflikte auch Spuren bei den betroffenen Menschen hinterlassen: „Dieser Vorfall ist Folge der Verbitterung, die sich bei den Menschen über viele Jahre entwickelt hat. … Sie haben so wahrscheinlich ihren Gefühlen Luft gemacht”, erklärte ein tadschikischer Offizieller zu Plünderungen am 29. April. Das Verhältnis der Bevölkerung auf beiden Seiten umstrittener Grenzabschnitte ist zudem seit langem von Misstrauen geprägt. Auch die Kamera, die die kriegerischen Ereignisse im April auslöste, war Ausdruck von Misstrauen: Sie sollte belegen, dass Kirgisen sich rechtswidrig verhielten.
Jahrelange Missachtung hat bei der Grenzbevölkerung auch das Vertrauen in die eigene Führung schwinden lassen. Sie fühlt sich von den Hauptstädten vernachlässigt und mit ihren Interessen nicht berücksichtigt. Dass Grenzfragen als geheim gelten, führt zu Gerüchten und Ängsten, die die Situation noch mehr belasten.
Selbst wenn auf zwischenstaatlicher Ebene eine erste Einigung gelingt, ist ihre Umsetzung nicht ohne Einbeziehung der örtlichen Bevölkerung möglich. Das hat sich im Falle Usbekistans und Kirgistans in diesem Frühjahr gezeigt. Grenzverträge, Gewinn oder Abtretung von Territorien, sind aus Sicht der Hauptstädte eine Angelegenheit vor allem der nationalen Ehre – für die Lokalbevölkerung ist es eine Überlebensfrage. Der Zugang zu Wasser und Weiden ist essentiell und geht über die Frage nach der historisch „richtigen“ Grenzlinie hinaus. Neben zwischenstaatlichen Grenzverträgen müsste vor Ort gemeinsam mit den Betroffenen nach belastbaren Lösungen dieser Fragen gesucht und Vertrauen wieder aufgebaut werden. Die gleichberechtigte Beteiligung der Bevölkerung an politischen Entscheidungsprozessen ist in Zentralasien bislang aber nicht üblich, und so fällt die Prognose für die friedliche Lösung der Grenzkonflikte sowohl auf zwischenstaatlicher wie nationaler Ebene negativ aus.
Fußnote:
[1] So der Ablauf der Ereignisse, wie er sich in lokalen und internationalen Medien darstellt. Die Narrative beider Seiten unterscheiden sich natürlich. Kirgistan hat wegen seiner zahlreichen und wenig kontrollierten Medien die Deutungshoheit, in Tadschikistan wurde kaum berichtet.
Dr. Beate Eschment ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZOiS und Expertin für Zentralasien.