Häusliche Gewalt in der Ukraine: Welche Rolle spielen religiöse Oberhäupter?
“Schweige nicht und toleriere keine Gewalt gegen dich selbst oder deine Kinder.” Diese Worte des Metropoliten Epiphanius, dem Oberhaupt der Orthodoxen Kirche in der Ukraine, sind auf einer neuen Internetseite mit dem Namen „Stoppt die Gewalt“ zu lesen. Käme dieser Aufruf von Polizeibeamten oder Sozialarbeiter*innen, wäre er recht unspektakulär. Aus dem Mund eines Vertreters der ukrainischen Kirche ist er jedoch vergleichsweise revolutionär.
Für viele Gläubige der unterschiedlichen Religionsgemeinschaften in der Ukraine, einschließlich der verschiedenen christlichen Konfessionen, ist häusliche Gewalt innerhalb religiöser Familien ein Tabuthema. Zwar haben religiöse Oberhäupter ein Ende häuslicher Gewalt gefordert, weiterhin jedoch verschiedene gewaltförmige Praktiken als Teil des Familienlebens gebilligt, darunter psychischen Missbrauch, körperliche „Züchtigung“ von Frauen und Kindern und Kontrolle mittels finanzieller Abhängigkeiten und Zwänge. Hinzu kommt, dass in der Ukraine nur selten über Gewalt gegen Männer gesprochen wird, da sie mit einer großen Scham auf Seiten der Opfer verbunden ist.
Vor diesem Hintergrund drohte eine, seit einigen Jahren im Land geführte Debatte dem öffentlichen Image der ukrainischen Glaubensgemeinschaften zu schaden. Seit 2017 wird darüber diskutiert, ob die Ukraine das „Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“, die sogenannte „Istanbul-Konvention“, ratifizieren soll. In den sozialen Medien haben viele Nutzer*innen darauf hingewiesen, dass religiöse Organisationen die Konvention weitestgehend ablehnen. Gleichzeitig unterbreiten diese Organisationen jedoch keine Vorschläge, wie der Schutz von Menschen vor häuslicher Gewalt auf andere Weise gewährleistet werden könnte, oder wie mit dem vieldiskutierten Genderbegriff umzugehen ist.
Im Zuge der kontroversen Debatte um die Konvention haben sich zwei Fronten gebildet: Zum einen eine traditionell-konservative und religiöse Fraktion, die gezielte Maßnahmen im Hinblick auf die sozialen Geschlechterverhältnisse und die Prävention häuslicher Gewalt ablehnen. Zum andere eine, von ihren Gegner*innen als “Propagandist*innen der Genderideologie” gebrandmarkte, säkular-liberale Fraktion. Deren Vertreter*innen haben zum Kampf gegen häusliche Gewalt aufgerufen, sind jedoch eine Antwort auf die entscheidende Frage, wie dieser Kampf zu führen sei, bisher schuldig geblieben.
Mobilisierung im Kampf gegen häusliche Gewalt
Das Jahr 2020 brachte nicht nur die Covid-19-Pandemie, die Ukraine wurde auch von einer Epidemie häuslicher Gewalt heimgesucht. In den ersten elf Monaten des Jahres wurden im Land mehr als 2.700 Fälle häuslicher Gewalt gemeldet. Im gesamten Jahr 2019 waren im Vergleich dazu nur 1.500 Fälle gemeldet worden.
Maksym Wasin und Oleksandr Sajez von der ukrainischen NGO „Institut für Religionsfreiheit“ (Institute for Religious Freedom, IRF) versuchen, in Zusammenarbeit mit den religiösen Gemeinschaften des Landes der wachsenden häuslichen Gewalt im Land entgegenzutreten. Dabei werden sie seit Frühling 2020 von der kanadischen Stiftung für lokale Initiativen CanadaFundUA unterstützt. Das Problem hat sich auch deshalb verschärft, da die Sozialdienste der ukrainischen Regionen infolge von Haushaltskürzungen Stellen abbauen mussten. Teilweise sind Kirchen und andere religiöse Einrichtungen die einzigen Schutzräume für Opfer häuslicher Gewalt.
Das Institut für Religionsfreiheit möchte einerseits die Arbeit von Menschen unterschiedlichen Glaubens gegen häusliche Gewalt zusammenführen. Andererseits möchte es Diskussionen über die Rhetorik anstoßen, mit der religiöse Vertreter*innen ihre Ablehnung der Istanbul-Konvention zum Ausdruck brachten. Das erste von der Initiative organisierte Treffen brachte hochrangige Vertreter verschiedener Religionsgemeinschaften zusammen, unter anderem auch Mitglieder des Allukrainischen Rats der Kirchen und Religionsgemeinschaften (All-Ukrainian Council of Churches and Religious Organisations, AUCCRO). Dabei bekräftigten sie ihre Absicht, eine Grundsatzerklärung und eine gemeinsame Zukunftsvision für das Projekt zu erarbeiten.
Beim zweiten Treffen des Projekts kamen Delegierte verschiedener Glaubensgemeinschaften zusammen, um sich auf eine gemeinsame Kommunikationsstrategie im Kampf gegen häusliche Gewalt zu einigen. Die Teilnehmenden entschieden, dass die Religionsgemeinschaften sich nicht nur an ihre eigenen Mitglieder, sondern an alle Menschen wenden sollen. Schwerpunktmäßig sollen jedoch Priester und religiöse Führungskräfte erreicht werden, um mehr Bewusstsein dafür zu schaffen, wie in den Gemeinden am besten über häusliche Gewalt gesprochen werden kann – etwa, wenn einem Priester in der Beichte von häuslicher Gewalt berichtet wird oder, wenn Gläubige sich zusammentun wollen, um eine Unterstützer*innengruppe oder eine soziale Initiative ins Leben zu rufen.
Eine Herausforderung der Arbeitsgruppe war es, Handlungsleitfäden für Priester zusammenzustellen. Dabei wurde deutlich, dass die existierenden Schutzräume und Hilfezentren kaum bekannt und die meisten Zufluchtsräume zudem aus Sicherheitsgründen geschlossen sind. Bemühungen innerhalb religiöser Gemeinden, die Situation zu verbessern, stoßen nicht immer auf die Zustimmung der jeweiligen Gemeindevorsteher*innen. Zudem wissen viele gewöhnliche Priester nicht, wie sie Gewaltopfern helfen können.
Gute Absichten – und nun?
Die Vertreter*innen des AUCCRO setzten ihre Arbeit zur Istanbul-Konvention in Form verschiedener Vorschläge fort, die den ukrainischen Behörden unterbreitet wurden: die Etablierung einer Arbeitsgruppe aus Anwält*innen und Vertreter*innen von AUCCRO, um die ukrainischen Gesetze gegen häusliche Gewalt zu verbessern; Treffen zwischen Menschenrechtler*innen und religiösen Vertreter*innen, um darüber zu diskutieren, wie häusliche Gewalt bekämpft werden kann; und eine Verbesserung der gesetzlichen Rahmenbedingungen, an die sich die Regionen der Ukraine zu halten haben. Bei den Vorschlägen handelt es sich jedoch bisher weitgehend um bloße Absichtserklärungen, denen noch keine praktischen Schritte folgten.
Das AUCCRO-Treffen gegen häusliche Gewalt ist nichtsdestotrotz ein Zeichen dafür, dass sich ein grundlegender Wandel vollzieht. Die Bereitschaft der Glaubensvertreter*innen, öffentlich mit Menschenrechtler*innen ins Gespräch zu kommen, war ein wichtiger erster Schritt. Allerdings sind nun konkrete Fortschritte gefordert. Bisher hat die interreligiöse Zusammenarbeit lediglich die Interseite „Stoppt die Gewalt“ und eine Facebookseite hervorgebracht, auf der für einen gemeinsamen Kampf der Gläubigen gegen häusliche Gewalt geworben wird.
Sowohl im Gespräch mit Priestern als auch mit Vertreter*innen der ukrainischen Regionen ist noch viel Arbeit zu leisten, um ausreichende Schutzräume für Gewaltopfer zu gewährleisten und ein Bewusstsein dafür zu schaffen, wie ihnen geholfen werden kann. Möglicherweise werden Glaubensvertreter*innen und Menschenrechtler*innen in Zukunft offen miteinander über Geschlechterfragen und die Istanbul-Konvention sprechen können. Zumindest wurde ein erster Schritt getan: Das Problem wurde öffentlich diskutiert. Nun können sich alle Beteiligten daransetzen, es zu lösen.
Tetiana Kalenychenko hat einen PhD in Religionssoziologie und ist Dozentin an der Nationalen Pädagogischen Universität „M.P. Drahomanow“ in Kiew.