Holocaust-Bildung in Russland
Als Reaktion auf die Covid-19-Pandemie wurden überall auf der Welt Bildungsangebote ins Internet verlagert. Nach Schätzungen einer Umfrage des Allrussischen Zentrums für die Erforschung der Öffentlichen Meinung nutzten Anfang April 2020 69 Prozent der Russ*innen das Internet für Bildungszwecke, eine Steigerung um 6 Prozentpunkte seit Februar. Schulen in ganz Russland mussten ihre Methoden digital anpassen, um weiter unterrichten zu können. Im Hinblick auf die Holocaust-Bildung sind insbesondere die Bemühungen einer einzelnen Organisation wichtig gewesen.
Eine Geschichte der Holocaust-Bildung in Russland
Holocaust-Bildung begann in Russland in den 1990er-Jahren durch die Bemühungen einzelner Lehrer*innen, nicht durch eine staatliche Initiative. Ein Wendepunkt war, als das Thema 2003 in einen Entwurf des offiziellen Russischen Standards für den Geschichtsunterricht aufgenommen wurde, wodurch der Holocaust zu einem verpflichtenden Thema in den Lehrbüchern im ganzen Land wurde.
Trotz staatlicher Förderung der Holocaust-Bildung räumen die russischen Schulbücher dem Thema jedoch nur einige wenige Sätze ein. Einem Forscher an der Russischen Akademie der Wissenschaften zufolge spiegelt sich darin “das Erbe sowjetischer Geschichtsschreibung” wider, “in dem das Thema der Juden, zusammen mit dem der Pogrome, des Holocaust und des staatlich geförderten Antisemitismus fehlt.”
Das Russische Forschungs- und Bildungszentrum „Holocaust“
Diese Lücke möchte das Russische Forschungs- und Bildungszentrum „Holocaust“, eine 1992 gegründete NGO, schließen. Laut der Internetseite der Organisation war sie die erste Institution im postsowjetischen Raum mit dem Ziel, „die Erinnerung an die Opfer des Holocaust zu bewahren, dokumentarische Ausstellungen zu schaffen, und Holocaust-bezogene Themen in Bildungsprogramme zu integrieren”. Durch das Zentrum haben sich seitdem tausende Schüler*innen und Lehrer*innen in ganz Russland und im Ausland mit dem Holocaust auseinandergesetzt.
Seit seiner Gründung hat das Russische Forschungs- und Bildungszentrum „Holocaust“ eine Fülle von Materialien für Lehrer*innen veröffentlicht, darunter eigene Lehrbücher, Sammlungen dokumentarischer Belege, und methodologische Veröffentlichungen. Das Zentrum hat viele dieser Materialien online verfügbar gemacht und betreibt Internetseiten zu ihren zwei aktuellen Projekten.
Eines dieser Projekte heißt „Würde zurückgeben“ und wird vom Russisch-Jüdischen Kongress mitorganisiert. Es bemüht sich darum, die Bestattungen der Opfer von Massenexekutionen mit den jüdischen Traditionen und den Gesetzen der Länder, in denen die Opfer begraben sind, in Einklang zu bringen. Das andere Projekt, „Befreier*innen”, dient dazu, die Namen von Soldaten der Roten Armee, Offizieren, Ärzten, und Krankenschwestern in Erfahrung zur bringen, die befreite Gefangene behandelten, welche die Befreiung von Auschwitz dokumentierten.
Die Onlinereaktion auf Covid-19
Als Reaktion auf die Covid-19-Pandemie stellte das Zentrum mehr von ihrem Material online zur Verfügung und nutzt neue Methoden der Onlinebeteiligung. Zwischen dem 3. April und dem 9. Mai 2020 veröffentlichte das “Autor*innen des Sieges”-Projekt jeden Tag einen Brief oder Tagebucheintrag, der 1945 am gleichen Datum geschrieben wurde. Diese Materialien wurden auch von russischen Zeitungen und Nachrichtenagenturen, Bildungsinstitutionen und lokalen Verwaltungen übernommen und erneut veröffentlicht.
Die Autor*innen der Briefe kamen aus verschiedenen Teilen der Sowjetunion und arbeiteten in einer Vielzahl von Berufen, unter anderem als Offiziere, Piloten, Artilleristen, Ärzte, Journalisten und Künstler. Zu den Materialien gehörten jene, die das Zentrum bereits in den fünf Bänden der Sammlung “Rette meine Briefe” veröffentlicht hatte, ergänzt um weitere Dokumente wie Briefe und Tagebücher aus Staatsarchiven und Museen in ganz Russland.
Einen Indikator, wie hoch das Engagement von Schulen in Russland ist, stellt der „Staffellauf der Erinnerung“ dar, eine Veranstaltung, die am 9. Mai stattfand, um den sich zum 75. Mal jährenden Tag des Sieges zu feiern. Die Mitarbeiter*innen des Zentrums wurden dabei gefilmt, wie sie Briefe vorlasen, die am 9. Mai 1945 von Soldaten der Roten Armee geschrieben wurden, und das Video wurde auf dem YouTube-Kanal “Kultur der Würde” veröffentlicht. Lehrer*innen und Schüler*innen in ganz Russland wurden aufgefordert, Videos von sich zu machen, wie sie Briefe von Soldat*innen vorlesen, und dem Zentrum die Aufnahmen zu schicken.
Die Geschwindigkeit, mit der das Russische Forschungs- und Bildungszentrum „Holocaust“ während des Covid-19-Ausbruchs Teile seiner Materialien online stellte, kann teilweise auf das bestehende Onlinesystem des Zentrums zurückgeführt werden. Dies zeigt jedoch auch die große Anzahl an Lehrer*innen und Schüler*innen aus ganz Russland, die die Materialien des Zentrums nutzen, wodurch sich die in ihnen enthaltenen Informationen umfassender verbreiten können.
Mangelnde Anerkennung
Leider ist das Zentrum jedoch mit weiteren Herausforderungen konfrontiert, die über die momentane Pandemie hinausgehen. Ilya Altman, Mitbegründer und -vorsitzender des Russischen Forschungs- und Bildungszentrum „Holocaust“, hat sich über die mangelnde Aufmerksamkeit beklagt, die Themen wie das Leben während der deutschen Besatzung, die Rolle von Kollaborateur*innen und der Widerstand im staatlichen Bildungssektor erhalten. Er wies darauf hin, dass der Holocaust nicht als ein separates Thema im Geschichtsunterricht behandelt wird, sondern dass daran interessierte Schüler*innen es sich eigenverantwortlich aneignen müssen. Altman äußerte sich auch zu allgemeineren, „beunruhigenden” Entwicklungen jenseits des Bildungssektors: 2012 wurde in Rostow am Don, wo etwa 20.000 Jüd*innen ermordet wurden, eine neue Gedenktafel enthüllt, auf der die Opfer als “friedliche Bürger*innen von Rostow am Don und sowjetische Kriegsgefangene” bezeichnet werden. Altman zeigte sich auch darüber enttäuscht, dass der Internationale Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust am Datum der Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee (27. Januar) in Russland immer noch nicht anerkannt ist.
Issy Sawkins erhielt ihren Masterabschluss in Political Sociology of Russia and Eastern Europe am University College London und ist aktuell Doktorandin am History Department der University of Exeter.