„In den Augen der Kirche sind Protest und Revolution eine Katastrophe“
In ihrer Dissertation „Die Russische Orthodoxe Kirche vor der Herausforderung Moderne“ setzt Regina Elsner sich mit dem Spannungsverhältnis zwischen Kirche und Gesellschaft in Russland im 21. Jahrhundert auseinander. Dabei nimmt die Theologin auch die historisch gewachsene Perspektive der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK) auf Erneuerung und Vielfalt in den Fokus.
Welchen Stellenwert besitzt die ROK in Russland in der heutigen Zeit?
Sie hat einen sehr großen Stellenwert in der Hinsicht, dass sich nach aktuellen Umfragen etwa 80 Prozent der Bevölkerung zur Russischen Orthodoxen Kirche bekennen. Sie hat ein sehr hohes Identifikationspotenzial für die Menschen, kulturell, national und historisch. Was die Religiosität betrifft, ist die Situation ähnlich wie in Deutschland. Von diesen 80 Prozent gehen etwa fünf Prozent regelmäßig in die Kirche, das heißt, zweimal im Jahr, zu Weihnachten und Ostern. Die religiöse Bedeutung der Kirche für das Leben der Menschen ist also eher gering.
Aus westlicher Sicht hat man den Eindruck, die Kirche sei in Russland stark mit der Politik verknüpft. Ist das der Fall?
Das ist mit Sicherheit so und hat historische Gründe. Die Kirche war in der sowjetischen Zeit stark unterdrückt. In den neunziger Jahren erlebte sie eine Befreiung und hatte keine Repressionen mehr zu erleiden. In dem Moment musste sie eine Entscheidung treffen: Möchte sie eher auf der Seite der Gesellschaft stehen, die nach dem Zusammenbruch des Kommunismus extrem zu kämpfen hatte, sowohl wirtschaftlich als auch mit ihrer Identität. Oder auf der Seite des Staates, der Stabilität versprach. Da die orthodoxe Kirche grundsätzlich eine Geschichte der Staatsnähe hat, lag es nahe, wieder mit dem Staat zu kooperieren. Hinzu kam, dass die Regierung aufgrund der Orientierungslosigkeit der Bevölkerung die Orthodoxie als neue Ideologie einsetzen konnte. Das hat die Kirche zu einem großen Teil mitgemacht, weil es ihrem historischen Selbstverständnis entsprach und sie froh war, dadurch wieder das Privileg zu bekommen, vom Staat geschützt zu sein.
Zwischen Staat und Kirche scheint es nicht nur eine strategische Allianz, sondern auch inhaltliche Übereinstimmungen zu geben. Wie reagiert die ROK auf die politischen Entwicklungen im 21. Jahrhundert?
Das ist richtig, sie sind inhaltlich in vielen Punkten nicht so weit voneinander entfernt. Ein gutes Beispiel aus den letzten Jahren ist die Auseinandersetzung mit Demokratie, mit Wahlen und Protesten. Das sind in letzter Zeit in Russland Themen, die aufgrund von politischer Unterdrückung und Verhaftungen stark diskutiert werden. Gläubige Menschen fordern tatsächlich von der Kirchenleitung, sich zu positionieren und im christlichen Sinne auf die Seite der Menschen und nicht auf die der Politik zu stellen. Die Kirche selbst sagt aber: „Kirche und Staat sind getrennt. Wir mischen uns nicht in politische Fragen ein." Gleichzeitig argumentiert sie aus ihrer althergebrachten Position der vergangenen Jahrhunderte: „Eine starke Macht ist wichtig für das Land. Wenn es zu einem Kampf von Meinungen kommt, dann ist das Konflikt, unsere Werte sind aber Stabilität, Harmonie und Einstimmigkeit.“ Damit meint sie auch Parteien, die miteinander konkurrieren, also das, was in unserem Sinne Demokratie ausmacht.
In den Augen der Kirche sind Protest und Revolution eine Katastrophe. Das begründet sie auch mit den Revolutionen Anfang des 20. Jahrhunderts, die so viel Unheil gebracht haben. Meinungsvielfalt, individuelle Rechte etc. – das sind in ihren Augen fremde Werte, vor denen man sich schützen muss. Die Kirche ist also sehr kritisch gegenüber dem, was die Menschen machen, wie sie protestieren und ihre Meinung, ihre Rechte einfordern. Aber sie ist völlig unkritisch gegenüber der Art und Weise, wie der Staat mit den Menschen umgeht. Und das ist natürlich extrem fragwürdig in Hinsicht darauf, wie die Kirche Menschen und Gesellschaft versteht.
Wie ist die ROK in der Vergangenheit mit solchen Herausforderungen umgegangen?
Die ROK hat sich letztendlich in der Praxis immer eher gegen Erneuerung ausgesprochen, auch wenn es theologisch Alternativen gegeben hat. Das ist sicher auch dadurch begründet, dass in ihrer Geschichte die Staatsnähe immer groß war und der monarchistische und autokratische Staat immer ein Interesse daran hatte, Modernisierung und Vielfalt zu reduzieren. Das hat sich gegenseitig stark beeinflusst. Lediglich zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es eine Blütezeit des Aufbruchs. Die Monarchie brach weg, etwas Neues gab es noch nicht und die Kirche konnte sich das erste Mal neu sortieren und entscheiden, was sie eigentlich will. Aber dann kamen 70 Jahren Sowjetunion, in denen die Russische Orthodoxe Kirche nicht theologisch arbeiten konnte. Alles, was man am Anfang des 20. Jahrhunderts vielleicht noch an Ideen und Aufbrüchen hatte, ist durch diese Zeit der Repression wieder verloren gegangen.
Sind in der Haltung der ROK tiefgreifende Veränderungen zu erwarten?
Nein, zu tiefgreifenden Veränderungen wird es absehbar nicht kommen. Kirche ist Teil der Gesellschaft, in der sie lebt; solange sich das politische und gesellschaftliche System nicht radikal ändert, wird sich auch an der Kirche nicht viel ändern. Sie ist insgesamt keine Kirche der Revolution und der Opposition. Letztendlich wird sie sich darauf berufen, dass sie dafür da ist, sich um das Heil des einzelnen Menschen zu kümmern und nicht um große gesellschaftliche Fragen. Das wird, wie in Russland insgesamt, dazu führen, dass Menschen, die anderer Meinung sind, sich von der Kirche abwenden oder das Land verlassen. Und diejenigen, die damit einverstanden sind und selbst Vorteile davon haben bleiben. Auch wenn die ROK Teil einer großen Weltkirche, einer großen christlichen Gemeinschaft ist, befindet sie sich letztendlich – wie Russland selbst auch – auf dem Kurs, sich zu isolieren. Zurzeit bin ich nicht besonders optimistisch, dass sich in Zukunft grundsätzlich etwas an dieser Situation ändern wird.
Das Gespräch führte Yvonne Troll, Kommunikationskoordinatorin des ZOiS.
Regina Elsner ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZOiS und beschäftigt sich in ihrem Forschungsprojekt mit dem sozialethischen Diskurs der Russischen Orthodoxen Kirche zwischen theologischer Souveränität und politischer Anpassung.
Elsner, Regina. 2018. Die Russische Orthodoxe Kirche vor der Herausforderung Moderne. Historische Wegmarken und theologische Optionen im Spannungsfeld von Einheit und Vielfalt, Würzburg: Echter Verlag.