„In Mittel- und Osteuropa ist man sich der Fragilität alles Politischen bewusster“
In seinem Essay denkt Ivan Krastev über die Zukunft der Europäischen Union und über die Gefahr ihrer Auflösung nach. Er beschäftigt sich mit den politischen Folgen der Flüchtlingskrise, dem Brexit sowie dem Aufstieg rechter Parteien und sucht nach Erklärungen für die Spaltung zwischen den östlichen und westlichen EU-Mitgliedsstaaten.
Was war der Hauptgrund für Sie dieses Buch zu schreiben? Was fehlte bislang in der Diskussion über Europa?
Ich glaube, es gab zwei Dinge, die mich dazu angeregt haben: Erstens besteht ein bedeutender Unterschied darin, wie die Krise, welche Europa in den letzten zehn Jahren getroffen hat, in Mittel- und Osteuropa auf der einen und Westeuropa auf der anderen Seite wahrgenommen wird. Dieser Unterschied gründet auf den sehr ungleichen kollektiven Erfahrungen der Menschen. In Mittel- und Osteuropa haben die Menschen den Zusammenbruch eines politischen Systems miterlebt und sind sich wahrscheinlich der Fragilität alles Politischen bewusster. Zweitens glaube ich, dass während der Flüchtlingskrise viel moralisiert wurde und es zu einem Missverständnis auf beiden Seiten darüber kam, was eigentlich genau vor sich geht und so beschloss ich, meine eigene Interpretation dazu zu schreiben, was hinter all dem stecken könnte.
Die Flüchtlingskrise hat Ost- und Westeuropa geteilt. Wie erklären Sie die Unterschiede im Umgang mit dieser Krise?
Aus westlicher Sicht war etwas Skandalöses im mittel- und osteuropäischen Verhalten. Der Grund war die hohe Feindseligkeit gegenüber Flüchtlingen an Orten, an denen es fast keine Flüchtlinge gab. Im Jahr 2015, als fast eine Million Menschen nach Deutschland kamen, waren in der Slowakei 168 Flüchtlinge. Dieser Skandal führte zum Gespräch über eine Krise der Solidarität. Jedoch glaube ich, dass wir eher ein Aufeinanderprallen von Solidaritäten erleben: von einer ethnischen Solidarität, der Solidarität mit der eigenen Gruppe, auf der einen Seite und der Solidarität mit den Schutzlosen auf der anderen. Das Buch versucht, die Unterschiede und Erfahrungen zu erklären, die Menschen in Osteuropa dazu bewegen, auf diese Weise zu reagieren. Aus historischen Gründen sind die Menschen in Mittel- und Osteuropa viel misstrauischer gegenüber jeder Art von kosmopolitischer Denkweise. Die mittel- und osteuropäischen Länder besitzen in der Regel ein sehr hohes Maß an ethnischer Homogenität, da die meisten dieser Staaten als Folge der ethnischen Säuberungen des Zweiten Weltkriegs entstanden sind. Paradoxerweise spielt außerdem auch der Antikommunismus eine Rolle, weil der Kommunismus sich als internationalistische Ideologie verkaufte, sodass ein gewisser Widerstand gegen diese Art von aufgezwungenem Internationalismus sehr wichtig war. Die 68er-Bewegung zum Beispiel hat in Westeuropa und in Mittel- sowie Osteuropa ganz unterschiedliche Bedeutungen. In Westeuropa ging es vor allem darum, sich mit Menschen zu identifizieren, die einem nicht ähnlich waren (der "Dritten Welt", Kuba und Vietnam), während es in Mittel- und Osteuropa um nationale Souveränität wie in Polen und in der Tschechoslowakei ging.
Wie würden Sie die Feindseligkeit gegenüber Flüchtlingen in Mittel- und Osteuropa erklären?
Ich glaube, dass es drei wichtige Gründe gibt, die diese Art von Feindseligkeit erklären. Der erste Grund wäre die demografische Angst: die Angst, dass kleine ethnische Nationen in Osteuropa altern. Der zweite ist das Trauma, das von einer großen Anzahl von Menschen provoziert wurde, die über die letzten 25 Jahre Osteuropa verlassen haben. Und drittens, anders als in Deutschland, wo zumindest die Mehrheit dem deutschen Staat zutraut, mit einem solchen Problem fertig zu werden, gab es in Osteuropa ein großes Misstrauen gegenüber den Fähigkeiten der postkommunistischen Staaten. In fast allen dieser Länder war das Versagen, die Flüchtlinge in die Gemeinschaft zu integrieren, eines der wichtigsten Beispiele dafür. Diese sehr unterschiedlichen Faktoren summierten sich zu einer Situation, in der osteuropäische Gesellschaften, die normalerweise über alles gespalten sind, sich in ihrer Feindseligkeit gegenüber den Flüchtlingen sehr einig waren.
Die Aussichten für das europäische Projekt sind ziemlich düster. Gibt es eine Möglichkeit, dass Europa gerettet werden kann?
Ich glaube nicht, dass es strukturelle Gründe für den Zerfall der Europäischen Union gibt. Es wird am politischen Talent und der Initiative von Führungsfiguren und der Gesellschaft liegen, ob sie überleben wird. Ein Teil des Problems des europäischen Projekts war, dass der Zerfall für lange Zeit undenkbar war und gerade das als eine der Hauptquellen der europäischen Integration angesehen wurde. Nach dem Brexit können wir uns vorstellen, dass ein gewisses Maß an Desintegration möglich ist, auch wenn niemand eine klare Vorstellung davon hat, wie sie genau aussehen wird. Klar ist: Wenn die Europäische Union sich aufzulösen beginnt, wird man nicht zu den Nationalstaaten zurückkehren, so wie sie zuvor waren. Die Europäische Union hat die Fähigkeit zu überleben, sie hat die Fähigkeit sich neu zu erfinden, aber sie wird anders sein. Ich weiß nicht, ob es besser oder schlechter wird, aber ich glaube, dass gerade das Überleben der EU ein Ursprung für ihre Legitimität sein kann. Menschen fragen was 1918 mit dem Habsburgerreich geschah, für mich ist eine viel interessantere Frage: Warum ist das Habsburgerreich nicht schon ein Jahrhundert zuvor zusammengebrochen, als so viele Leute es erwartet hatten?
In diesem Zusammenhang empfehlen Sie, dass Europa Improvisation und Flexibilität anwenden sollte. Was meinen Sie damit?
Die wichtigste Botschaft aus Deutschland während der Finanzkrise war, dass wir uns an die Regeln halten sollten, damit das europäische Projekt erhalten bleibt. Dann kam die Migrationskrise und Deutschland selbst beschloss, die Regeln zu brechen – was gut ist, weil Regeln zwar wichtig sind, aber man in einem Moment der Krise nach Ad-hoc-Lösungen suchen sollte, die die Chance erhöhen, das Projekt zu bewahren. Deshalb wird jede dogmatische Sichtweise, jede Starrheit im Umgang mit Europa nicht weiterhelfen. Ich glaube, dass mehr Flexibilität sowohl in der Krise der Eurozone als auch in der Flüchtlingsfrage helfen wird, denn wenn die Europäische Union durch diese Krise kommen soll, müssen die Menschen mehr Vertrauen in ihre Zukunft haben.
Das Gespräch führte Stefanie Orphal, Leiterin der Kommunikation des ZOiS.
Ivan Krastev ist Vorsitzender des Centre for Liberal Strategies in Sofia und Permanent Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien. Er ist Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des ZOiS.
Krastev, Ivan: Europadämmerung. Ein Essay. Suhrkamp, 2017.