Ist die NATO-Russland-Grundakte noch relevant?
Am 27. Mai 1997 wurde auf dem NATO-Gipfel in Paris die „Grundakte über gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit zwischen der Nordatlantikvertrags-Organisation und der Russischen Föderation“ – kurz: NATO-Russland-Grundakte – unterzeichnet. Die drastisch veränderte politische Großwetterlage wirft jedoch die Frage auf, inwieweit dieses völkerrechtliche Dokument für die Beziehungen zwischen NATO und Russland eigentlich noch relevant ist? Handelt es sich dabei immer noch um einen wesentlichen Grundpfeiler der europäischen Sicherheit oder lediglich um eine Absichtserklärung aus längst vergangenen Zeiten?
Damals versuchten beide Seiten, sich nicht mehr als Gegner, sondern als Partner zu sehen, die gegenseitigen Beziehungen auf eine neue kooperative Grundlage zu stellen und eine inklusive Sicherheitsgemeinschaft im euro-atlantischen Raum zu schaffen. Aus heutiger Sicht kann geschlossen werden, dass diese Versuche gescheitert sind. Es gibt zahlreiche Stimmen sowohl in Russland als auch im Westen, die eine Neuinterpretation des Dokuments fordern. Strittiger Punkt ist vor allem der Abschnitt über die Zurückhaltung der NATO gegenüber einer „Stationierung substanzieller Kampftruppen“ an ihren Ostgrenzen. Die russische Seite wirft der Allianz vor, gegen die eigene Verpflichtungserklärung verstoßen zu haben. Im Westen wird mitunter die Auffassung vertreten, dass die stark veränderte Sicherheitslage und Russlands Bilanz an Verfehlungen in den letzten 20 Jahren eine permanente und robuste Stationierung von NATO-Verbänden in Mittel- und Osteuropa inzwischen rechtfertige.
Trotz des vorherrschenden Dissens über Inhalt und Zweck des Dokuments, nimmt die NATO-Russland-Grundakte, insbesondere in der deutschen Debatte, nach wie vor eine besondere Stellung ein. Die Bundesregierung betont stets, dass bei der Formulierung einer allgemeinen Strategie der NATO gegenüber Russland („Gleichzeitig Stärke und Gesprächsbereitschaft zeigen“) nichts unternommen werden dürfe, das im Widerspruch zu dem Dokument stehe.
Schaut man sich den Text der Grundakte genauer an, wird deutlich, dass insbesondere dem Forum für Konsultationen und Kooperationen, dem NATO-Russland-Rat, eine zentrale Rolle zukommt. Der 2002 in Rom gegründete Rat verfügt über zahlreiche Arbeitsgruppen sowie zusätzliche ad-hoc-Gruppen, die sich von Terrorismusbekämpfung über Rüstungskontrolle bis hin zu Katastrophenschutz mit den unterschiedlichsten Themen von beiderseitiger militärischer Bedeutung befassen. Eigentlich sollte der Rat zweimal jährlich auf der Ebene der Außenminister und Verteidigungsminister sowie monatlich auf der Ebene der Botschafter bzw. Ständigen Vertreter beim NATO-Rat tagen. Auch militärische Vertreter sollten monatlich zusammenkommen. Die Realität ist hingegen ernüchternd, denn über die Jahre kam ein regelmäßiger Sitzungszyklus nie zustande. Auch hat sich der NATO-Russland-Rat nie zu einem beschlussfähigen Organ entwickelt. Die Gründe sind vielschichtig: mangelndes Vertrauen, fehlender politischer Wille und vermeintlich gesunkener Gesprächsbedarf.
Die erste Zäsur stellte 2008 der Südossetien-Krieg zwischen Russland und Georgien dar. Als Folge wurde die Arbeit im Rat suspendiert. Fast zwei Jahre fanden keine Treffen mehr statt. 2014 folgte dann die Ukraine-Krise. Im Zuge der Krim-Annexion wurde im April jegliche praktische militärische und zivile Kooperation zwischen NATO und Russland eingestellt. Zwar wurde die Tür für politische Konsultationen auf Botschafterebene offengehalten, doch herrschte auch hier zwei weitere Jahre lang Schweigen.
Im Grunde widerspricht diese Praxis dem beabsichtigten Zweck des Gremiums, denn der NATO-Russland-Rat sollte „das wichtigste Forum für Konsultationen zwischen der NATO und Russland in Krisenzeiten oder in Bezug auf jede andere Situation bilden, die den Frieden und die Stabilität berührt“. Das Gegenteil ist heute der Fall: Befinden sich die NATO-Russland Beziehungen in einer Krise, ist auch die Arbeit im Rat gestört bzw. wird gänzlich unterbrochen.
Nachdem 2016 der Dialog wiederaufgenommen und im März 2017, im Vorfeld des NATO-Außenminister-Treffens in Brüssel, das bislang letzte Treffen stattfand, kam es wieder zu einem konstruktiveren Informationsaustausch. Zwar gab es bei diesen letzten Zusammenkünften keine Annäherung beim Thema Ukraine, doch berichteten beide Seiten über militärische Großübungen. Des Weiteren wurde über mehrere Initiativen zur Risikoreduzierung bei Militärmanövern diskutiert. Gerade dieses letzte Thema lohnt eine nähere Betrachtung.
Im gesamten euro-atlantischen Raum, aber insbesondere in und über der Ostsee, kam es in den letzten drei Jahren wiederholt zu gefährlichen Zwischenfällen, bei denen zivile und militärische Schiffe und Flugzeuge Russlands, von NATO-Mitgliedsstaaten und von Dritten beteiligt waren. Allein zwischen 2014 und 2015 zählte das European Leadership Network (ELN) 60 solcher Ereignisse. Dabei handelte es sich vornehmlich um Luftraumverletzungen sowie Nahbegegnungen zwischen amerikanischen Kriegsschiffen und russischen Kampfflugzeugen. Bekannt wurde der Fall eines russischen Kampfjets, der im April 2016 gefährliche Manöver in unmittelbarer Nähe des US-Zerstörers Donald Cook in internationalem Gewässer vor der russischen Küste flog. Beide Seiten, Russland und die NATO, beschuldigen sich gegenseitig, dass Flüge in Grenznähe häufig mit ausgeschalteten Transpondern geflogen werden. Dies ist nach wie vor zwar gefährlich, aber nicht illegal, da militärische Flugzeuge nicht an die Regeln der Internationalen Zivilluftfahrtorganisation gebunden sind.
Trotz zahlreicher bilateraler, noch zu Sowjetzeiten abgeschlossener Abkommen zwischen Russland und einzelnen Staaten besteht ein zentrales Problem fort: das Fehlen eines allgemeingültigen Abkommens, das die Wahrscheinlichkeit solcher Zwischenfälle minimiert bzw. regelt, welche Maßnahme zu ergreifen sind, falls sie dennoch stattfinden (siehe auch Bericht von ELN 2016).
Realistisch betrachtet gibt es außerhalb der OSZE und des NATO-Russland-Rats keine anderen Konsultationsformate, in welchen solche Themen umfänglich diskutiert werden könnten. Dass Handlungsbedarf besteht, steht außer Frage. Ambitionierte Initiativen mit unrealistischen Erwartungshaltungen sind hier wenig zielführend, sondern vor allem kontinuierliche Arbeit mit dem Ziel, Maßnahmen zur Verbesserung der militärischen Zusammenarbeit sowohl im Nahen Osten als auch im euro-atlantischen Raum zu ergreifen. Dadurch könnten die Risiken für militärische Zwischen- bzw. Unfälle, wenn nicht minimiert, dann zumindest einmal definiert werden. Schaut man sich die Agenda des bevorstehenden NATO-Gipfels in Brüssel an, darf jedoch bezweifelt werden, dass dieses Thema derzeit Priorität genießt.
Nadja Douglas ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZOiS.