ZOiS Spotlight 34/2020

Kommt die Revolution über Telegram?

Von Anna Litvinenko 23.09.2020
Das Internet und Handys spielen eine große Rolle bei den Protesten in Belarus. © imago images / ITAR-TASS

Als nach der Präsidentschaftswahl am 9. August 2020 in Belarus Proteste ausbrachen, befand ich mich in einem belarusischen Dorf in der Nähe der polnischen Grenze. Am Morgen brach plötzlich die Internetverbindung ab und ich war von allen Informationsquellen außer dem Fernsehen abgeschnitten. Ich versuchte zwischen den Zeilen der einförmigen Mitteilungen der TV-Nachrichtensprecher*innen zu lesen, die von einem erdrutschartigen Sieg des Amtsinhabers Aljaksandr Lukaschenka sprachen. Ich ertappte mich bei dem Gedanken, dass die Strategie der Regierung, das Internet abzuschalten, funktionieren müsste. Auf diese Weise wurden die Leute dazu gebracht, den Fernseher anzuschalten und die Regierung würde die Deutungshoheit bekommen. Doch ich lag falsch.

Viele Menschen in größeren Städten von Belarus schalteten nicht den Fernseher ein. Als ihre Internetverbindung gekappt wurde, gingen sie auf die Straße und kamen offline zusammen. Sie tauschten Dateien zur Installation von VPNs (Virtual Private Networks) aus und nutzten Telegram, das, wie der Gründer der Messaging-App, Pawel Durow in einem Tweet verkündete,  „Anti-Zensur-Werkzeuge“ aktivierte. Telegram wurde eines der wichtigsten Hilfsmittel, um die Proteste zu koordinieren und Informationen auszutauschen. Die Nachrichtenagentur Associated Press nannte die Unruhen in Belarus sogar „eine Telegram-Revolution“. In den ersten Wochen der Proteste erhöhte sich die Reichweite des in Warschau ansässigen Telegram-Kanals Nexta Live von 300.000 auf zwei Millionen Follower*innen. Er wurde zu einem der wichtigsten Instrumente der führungslosen Proteste.

Wie bereits bei Demonstrationen im Iran und in Hong Kong halfen Telegram-Kanäle dabei, die Internetzensur zu umgehen und die Proteste zu koordinieren. Es ist jedoch wichtig, den Aufstieg von Telegram als Nachrichtenmedium kritisch zu betrachten. Auf anonymen Quellen beruhender Journalismus, wie er auf Telegram floriert, ist ein zweischneidiges Schwert, das genauso gut gegen demokratische Protestbewegungen gerichtet werden kann. Meine aktuelle, gemeinsam mit Anna Smoliarowa von der Universität Sankt Petersburg durchgeführte Forschung zu politischen Nachrichtenkanälen im russischen Segment von Telegram zeigt, dass diese Art der Nachrichtenberichterstattung leicht durch anonyme Akteure manipuliert werden kann und den Prozess der Demokratisierung gefährden könnte.

Anonymer Journalismus: Wer profitiert davon?

Der Chefredakteur von Nexta, Roman Protasewitsch, nennt sein Team „Pioniere des Cyberjournalismus“. Er und der Gründer von Nexta, der 22-jährige Stepan Putilo, sind die einzigen Mitglieder der Organisation, deren Namen bekannt sind. Wie Putilo dem Nachrichtenportal Delfi.ee in den ersten Wochen der Proteste erzählte, bekam Nexta etwa 200 Nachrichten pro Minute aus allen Teilen von Belarus. Diese Informationsflut wurde von einem vierköpfigen Team analysiert, das im Laufe der Proteste auf sechs erweitert wurde. Alle fünf Minuten veröffentlichten sie neue Nachrichten.

Ein großer Teil der von Nexta generierten Inhalte besteht aus detaillierten Anweisungen für die Protestierenden. In einem Interview mit der Onlinezeitung Meduza gab Protasewitsch zu, dass ihnen Fehler unterlaufen seien, als sie nicht verifizierte, nutzergenerierte Inhalte über den Kanal verbreiteten. Er sprach gegenüber Meduza auch von Trollen, die versuchten, ihre Arbeit zu sabotieren, indem sie gefakte oder irrelevante Nachrichten sandten.

Auf der einen Seite stärkte die Anonymität der Nachrichten und der aktivistische Charakter von Telegramkanälen wie Nexta demokratische Initiativen, besonders in restriktiven politischen Kontexten. Auf der anderen Seite bilden dieselben Merkmale des Telegram-Journalismus einen Nährboden für die Verbreitung von Falschinformationen und manipulativen Inhalten. In Russland gibt es Hinweise darauf, dass einige der führenden politischen Nachrichtenkanäle auf Telegram durch staatliche Akteure instrumentalisiert werden.

Orientierung in einem Labyrinth der Narrative

Im Fall von Belarus hat der Staat anscheinend die Gefahr übersehen, die die Onlinekommunikation für das Regime darstellen könnte. Im August 2020 bestand die Strategie der Regierung hauptsächlich aus sogenannten Internetkontrollmethoden der ersten Generation: abschalten und sperren. Andere autoritäre Regime setzen mittlerweile ausgefeiltere Mittel ein, um das Internet zu kontrollieren, wie etwa das Nutzen der sozialen Medien für eigene Zwecke. Es ist absehbar, dass die belarusische Regierung ihre Lektion lernen und damit beginnen wird, Nachrichtenkanäle auf Telegram zur Überwachung zu nutzen sowie um Feedback zu sammeln und ihre eigene Agenda voranzutreiben. Manche Berichte deuten darauf hin, dass Unterstützer*innen von Lukaschenka bereits zunehmend Telegram verwenden.

Telegramkanäle mit anonymen News waren in der Frühphase der Proteste ein wirksames Mittel, Protestierende zu mobilisieren und ihnen Sichtbarkeit zu verschaffen. Die Kommunikationswissenschaftler*innen W. Lance Bennett und Alexandra Segerberg haben diese Art des führungslosen Protests, der über soziale Medien mobilisiert wird, „konnektives Handeln“ (connective action) genannt. Nach der ersten Stufe des konnektiven Handelns folgt jedoch eine zweite Stufe, auf der andere Mittel benötigt werden, um aus Protest politischen Wandel werden zu lassen. An diesem Punkt wird mehr denn je professioneller Journalismus gebraucht, um den Bürger*innen dabei zu helfen, sich in einem Labyrinth aus nutzergenerierten Inhalten und anonymen News zu orientieren.


Dr. Anna Litvinenko ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Arbeitsstelle Digitalisierung und Partizipation des Instituts für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Freien Universität Berlin.