Leben zwischen zwei Welten: Arbeitsmigrant*innen in Russland
Migrationsbewegungen zwischen Russland und Zentralasien sind kein neues Phänomen, dennoch sind seit dem Zerfall der Sowjetunion und in Folge ökonomischer Umwälzungen sowie politischer Instabilität neue Migrationswellen aus Zentralasien zu beobachten. In den letzten drei Dekaden entwickelte sich Russland zu einem wichtigen Zielland: Während der 1990er Jahren siedelten hauptsächlich ethnische Russ*innen aus den zentralasiatischen Republiken nach Russland um. In den 2000er Jahren folgten dann vermehrt Migrant*innen aus den drei verarmten zentralasiatischen Ländern Tadschikistan, Usbekistan und Kirgistan in die russischen Großstädte, um dort Arbeit zu finden und somit den Lebensunterhalt ihrer Familien zu sichern. Schätzungsweise 4 bis 5 Millionen Arbeitsmigrant*innen leisten derzeit ihren Beitrag zur Entwicklung der russischen Wirtschaft – auf Baustellen, Märkten und in diversen Branchen des Dienstleistungssektors.
Die transnationale Arbeitsmigration nach Russland lässt sich dabei durch zwei Merkmale charakterisieren: 1) Aus Tadschikistan und Usbekistan migrieren überwiegend junge Männer, vor allem wenig qualifizierte Arbeiter aus ländlichen Gebieten und kleineren Städten. 2) Eine zunehmende Feminisierung der Migration lässt dagegen in Kirgistan feststellen, von wo aus ein relativ hoher Anteil an Frauen auswandert. Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration aus dem Jahr 2015 waren über 59 Prozent der Migrant*innen aus Kirgistan Frauen. In beiden Fällen überweisen transnationale Arbeitsmigrant*innen einen Teil des erworbenen Einkommens an ihre Familienmitglieder in Zentralasien. Individuelle Rücküberweisungen machen inzwischen einen wichtigen Posten im Bruttoinlandsprodukt und den Haushaltökonomien insbesondere Tadschikistans und Kirgistans aus.
Unsicherer Rechtsstatus
Zwar lässt sich Russland zu den neuen Einwanderungsländern zählen und die Grenzen zu vielen zentralasiatischen Staaten sind offen, allerdings gibt es im Gegensatz zu westeuropäischen Staaten wenig regulierte Rahmenbedingungen für Migration und Integration. Ein hoher Grad an Informalität in den Arbeitsverhältnissen führt zu prekären rechtlichen Situationen und damit zu einem kriminalisierten Bild von Migrant*innen. Es fehlt an Integrationskonzepten, hinzu kommen zudem häufig ethnische Diskriminierungen. Migration wird in diesem Kontext sowohl von Migrant*innen selbst als auch von staatlichen Institutionen als eine temporäre Lebenssituation wahrgenommen und praktiziert. Dennoch bedeutet in vielen Fällen Arbeit und Mobilität im transnationalen Raum einen dauerhaften Lebensentwurf, der sich „zwischen zwei Welten“ in eine grenzübergreifende Beziehungsrealität entfaltet. Migrant*innen gestalten nicht nur wirtschaftliche Strukturen in den beiden Ländern mit, sondern schaffen soziale Verflechtungen und Räume auf Distanz, die den Alltag, die Identitäten und individuelle Biographien sowohl der Migrant*innen als auch der zurückgebliebenen Familienangehörigen beeinflussen.
Um diese Prozesse und Zusammenhänge zu verstehen, befassten sich russische und zentralasiatische Sozialwissenschaftler*innen mit einem für Russland und Zentralasien neuen Forschungsfeld – dem transnationalen Alltag. Im Zentrum einer internationalen Langzeitstudie unter der Leitung von Sergej Abashin an der Europäischen Universität in St. Petersburg standen unter anderem folgende Fragen: Wie werden familiäre Verantwortungen über nationale Grenzen hinweg wahrgenommen und Zusammengehörigkeitsgefühle aufrechterhalten? Welche Veränderungen von Familienstrukturen zeichnen sich in Anbetracht der Tatsache ab, dass Familie – nach dem dramatischen Rückgang der staatlichen Versorgung seit dem Ende der Sowjetunion – zu einer der wichtigsten Absicherungsressourcen geworden ist?
Über einen Zeitraum von fünf Jahren (2014-2018) untersuchte das Forschungsprojekt Transnational and Translocal Aspects of Migration: Migration from Central Asia to Russian Cities unter Mitarbeit von Olga Brednikova und Guzel Sabirova das mobile Alltagsleben von 40 Migrant*innen und ihren Familien. Die Ergebnisse zeigen eine enorme Mobilitätsbereitschaft und „Flexibilität“ der Lebensentwürfe. So wechselten diese häufig ihren Arbeitsplatz, ihren Wohnort und ihre Partner*innen: Sie verließen "für immer" ihr Zuhause, kehrten jedoch einige Monate in ihr Herkunftsland zurück, nur um dann erneut zu migrieren. Die instabile rechtliche Situation in Russland erschwert es Migrant*innen, langfristige Pläne zu entwickeln. Ihr Leben besteht aus kurzfristigen Entscheidungen mit "konkreten Zielen", zum Beispiel, um für eine Hochzeit zu sparen oder Reparaturen am Haus vorzunehmen. Gleichzeitig setzen sich Migrant*innen mit verschiedenen Szenarien auseinander, die sie nicht für widersprüchlich halten: Ein Haus in der Heimat zu bauen und nach Möglichkeiten zu suchen, eine Wohnung in Russland zu kaufen.
Neugestaltung der Familie?
Darüber hinaus lassen sich wichtige Auswirkungen der Migration auf traditionelle zentralasiatische Familienstrukturen beobachten. Der gesellschaftliche Wandel lässt sich besonders an der Transformation "traditioneller" patriarchalischer Familienwerte erkennen. Mit der "traditionellen" Familie ist hier vor allem eine erweiterte Familie, ein lokales Familiennetzwerk gemeint, das in einem Haushalt zusammenlebt und eine Struktur der Fürsorge, Kostenteilung und hierarchisch geordnete Beziehungen reproduziert: Frauen zu Männern, Jüngere zu Älteren, Kinder zu Eltern, Schwestern zu Brüder. Im Kontext der Migration stellt sich die Frage, inwieweit die geographischen Distanzen die Familienbeziehungen und das Konzept der Familie verändern.
Hier zeichnen sich widersprüchliche Trends ab, indem sowohl traditionelle Hierarchien aufrechterhalten als auch neue soziale Muster praktiziert werden. Die geographische Distanz zwischen Familienangehörigen und die durch die Migration bedingten unsicheren Lebensverhältnisse auf beiden Seiten kann ein Festhalten an herkömmlichen Familienstrukturen bedingen. Andererseits sind Veränderungen von traditionellen Autoritätsverhältnissen und Geschlechterrollen im Gange, beispielsweise die Entstehung von Parallelfamilien in Russland, steigende Scheidungsraten, eine wachsende Zahl von Mischehen und zurückgebliebene Kinder mit nur einem Elternteil.
Trotz der prekären Lebensbedingungen und starker Sozialkontrolle durch Smartphones, kann Migration neue Chancen und Optionen für die Selbstverwirklichung bieten, insbesondere für Frauen. Konkret geht es hier um eine neue Quelle der finanziellen Absicherung von Frauen und alternative Wege, um ihren sozialen Status zu verbessern bzw. aufrechtzuerhalten. Dies trifft vor allem auf verwitwete und geschiedene Frauen aus Zentralasien zu, die in Russland einen neuen Raum für ihre weiteren Lebensperspektiven suchen. Die Ausbalancierung des Lebens zwischen zwei Welten ist nicht leicht und erfordert eine intensive Bereitschaft, in zwei Systemen zu agieren. Die Debatten und Einblicke in die Forschung zeigen, dass die sozialen Dimensionen von Migrationsgeschichten in Russland stark vernachlässigt sind und wie wichtig es ist, sich mit dem überwiegend aus der fehlenden rechtlichen Regulierung entstehenden Stigma zentralasiatischer Migrant*innen in Russland kritisch auseinanderzusetzen.
Tsypylma Darieva ist promovierte Sozialanthropologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZOiS.