Lew Gudkow und das Lewada-Zentrum
Die Fülle an öffentlichen Meinungsumfragen und die daraus resultierende Verfügbarkeit von Informationen über politische Haltungen und Präferenzen macht Russland zu einer Ausnahme unter autoritären Staaten. Auch wenn die erhobenen Daten kritisch gesehen werden müssen (russische Befragte scheinen wenig Vertrauen in die Anonymität der Umfragen zu haben und können somit das Ergebnis der Befragung verzerren, indem sie politisch oder gesellschaftlich wünschenswerte Antworten geben), sind in den meisten autoritären Staaten keine unabhängigen und seriösen Umfrageinstitute vorhanden, welche ihre Ergebnisse öffentlich machen. Den größten Beitrag zur in dieser Hinsicht einmaligen Rolle Russlands steuern die beharrlichen Bemühungen des unabhängig soziologisch forschenden Lewada-Zentrums bei, das von Lew Gudkow geleitet wird.
Das Lewada-Zentrum trat in die Fußstapfen des WZIOM, dem ersten Umfrageinstitut Russlands. Es wurde 1987 von der sowjetischen Regierung gegründet und ab 1992 von Juri Lewada, einem der führenden sowjetischen Soziologen, geleitet. WZIOM hat die Tradition der neuen russischen Umfrageindustrie buchstäblich „erfunden“. Diese umfasste landesweite Umfragen zu einer Reihe von politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Themen, während in der UdSSR nur industrie- und regionalspezifische Umfragen zugelassen waren. Lew Gudkow, ein Schüler Lewadas, schloss sich 1988 zusammen mit Lewada dem WZIOM an. Er leistete einen erheblichen Beitrag zur Etablierung der Umfrageverfahren in Russland. Nachdem es 2003 eine Auseinandersetzung mit dem Inhaber des Instituts gegeben hatte, dem russischen Staat, verließen Lewada und sein Team die Institution und gründeten eine neue wissenschaftliche Einrichtung, die später als Lewada-Zentrum bekannt werden sollte. Nach Lewadas Tod 2006 wurde Gudkow zum Leiter des Zentrums ernannt.
Gudkow und die Soziologie in Russland
Im fragmentierten Feld der russischen Sozialwissenschaften steht Gudkow für einen Ansatz, der sich vereinfacht ausgedrückt auf zwei Merkmale stützt[1]. Das ist zum einen sein Vertrauen auf eine große empirische Datenbasis, die sich hauptsächlich aus Meinungsumfragen speist. Sie dienen als primäre Quelle des Wissens über die soziale Realität und besonders über die großen Fragen, die mit dem Funktionieren und der Transformation von Gesellschaften verknüpft sind. Ein Beispiel dafür ist das Konzept des „Homo Sovieticus“ – des „sowjetischen Menschen“. Diese Idee entsprang einer von Lewada durchgeführten weitläufigen Studie in den 1980er Jahren und wurde von Gudkow weiter ausgearbeitet. Das Ziel der Studie bestand darin zu erklären, inwiefern sich ein totalitärer Staat auf die Werte einer Gesellschaft auswirkt, nämlich zu einem Rückgang an Vertrauen und einem Anstieg an Zynismus und Opportunismus führt. Auch wenn die anfänglichen Studien Lewadas für ein Verschwinden des Homo Sovieticus sprachen, der den Generationswandel nach dem Kollaps der UdSSR nicht hätte überdauern sollen, bestätigen jüngste Studien das Fortbestehen gewisser Merkmale des Homo Sovieticus in der gegenwärtigen russischen Gesellschaft. So scheint der „sowjetische Mensch“ fortzuleben und die heutige russische Gesellschaft und Politik weiter von der Vergangenheit überschattet zu sein.
Zum anderen ist es ein Merkmal von Gudkows Ansatz, besonderen Wert auf die gesellschaftliche Relevanz seiner Forschung zu legen. Gudkow lehnt die Idee einer reinen, im „Elfenbeinturm“ betriebenen Wissenschaft genauso ab, wie die Rolle der Soziologie als Beraterin von Entscheidungsträger*innen. Im Gegenteil sollen die komplexen gesellschaftlichen Entwicklungen erforscht und an die breite Öffentlichkeit kommuniziert werden. Dabei schreckt er nicht davor zurück, auf die politische Bedeutung der Umfrageergebnisse hinzuweisen und seine Kritik an dem Entwicklungspfad, den russische Regime seit dem Jahr 2000 folgen, zu äußern. Gudkow macht auch auf die Art und Weise, wie Umfragen umgesetzt worden sind, aufmerksam. So kritisierte er die Verwendung von sogenannter wertneutraler Sprache, wobei bewusst auf Wörter verzichtet werden, die starke Emotionen oder Werturteile hervorrufen können. Seiner Meinung nach werden russische Befragte (ein misstrauischer Homo Sovieticus) mehr in solche wertneutralen Fragen hineindeuten als angenommen wird: Die angestrebte Wertneutralität würde als „Sprache der Macht“ eingeschätzt werden, die den politischen Status quo legitimiert und damit die Antwort in eine bestimmte Richtung lenkt.
Lewada-Institut und Russlandstudien
Die Relevanz des Lewada-Zentrums geht über Gudkows methodische und theoretische Ideen hinaus. Das Institut bleibt ein verlässlicher Partner für viele internationale Wissenschaftler*innen, welche sich komplexer Praktiken bedienen um eine große Spannbreite an Themen zu untersuchen, die von herausragender Bedeutung sind, um das heutige Russland zu verstehen. Dazu gehören Studien darüber, wie sich die Sanktionen auf die öffentliche Unterstützung des Regimes oder Wahlmanipulationen auf das Vertrauen in die Regierung auswirken.
Im Jahr 2016 wurde das Lewada-Zentrum vom Russischen Justizministerium zu einem „ausländischen Agenten“ erklärt. Laut Gudkow haben sich seine größte Bedenken, nämlich, dass die Befragten aufhören würden, an Umfragen teilzunehmen, bis jetzt nicht verwirklicht. Dennoch schafft diese Bezeichnung Besorgnis um die Zukunft des Instituts, das für die detaillierte Erforschung der russischen Politik und Gesellschaft innerhalb und außerhalb Russlands sowie für die Entwicklung der soziologischen Forschung in Russland äußerst wichtig ist.
Prof. Dr. Alexander Libman ist Professor für Sozialwissenschaftliche Osteuropastudien am Institut für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
[1] Vgl. Lev Gudkov (2009), Est‘ li osnovaniya u teoreticheskoy sociologii v Rossii? Vestnik Obshchestvennogo Mneniya (1): 101-116.