ZOiS Spotlight 39/2019

Machtdemonstration der georgischen Regierungspartei

Von Diana Bogishvili 23.10.2019
Georgian Dream

Am 20. Juni hatte in Georgien eine beispiellose Protestwelle begonnen. Ausgelöst durch den Auftritt eines russischen Duma-Abgeordneten im georgischen Parlamentsgebäude, richteten sich die Proteste gegen die von vielen Georgier*innen als Okkupation empfundene russischen Präsenz in den abtrünnigen georgischen Gebieten Abchasien und Südossetien und setzten sich täglich bis zum 20. September fort. In den weiteren Protesten ging es den Demonstrierenden vor allem darum, dass der Innenminister Giorgi Gacharia Verantwortung für das gewaltsame Vorgehen der Polizei übernehmen und zurücktreten sollte. Schon am 4. Juli war für die Generalstaatsanwaltschaft die Lage eindeutig gewesen: Sie hatte verkündet, dass das Ziel der Protestierenden darin bestand, die Regierung zu stürzen. Infolge dieser Bekanntmachung wurde der oppositionelle Parlamentsabgeordnete Nikanor Melia der Organisation von Gruppengewalt beschuldigt. Um ihn zu kontrollieren, wurde ihm ein elektronisches Armband angelegt. Mit derselben Anschuldigung wurden außerdem weitere Protestteilnehmende festgenommen. In der Erklärung der Generalstaatsanwaltschaft manifestierte sich eine offensive Haltung der georgischen Regierungspartei gegenüber den Protestierenden, die kurz darauf durch die Stellungnahme zur kontroversen Rede des georgischen Journalisten Giorgi Gabunia bestätigt wurde. Diese Rede zog weitreichende Folgen nach sich.

Der „Provokateur“

Am 7. Juli hat der Moderator des oppositionsnahen Fernsehsenders Rustavi 2, Giorgi Gabunia, seine Sonntagssendung nicht wie üblich auf Georgisch, sondern auf Russisch eröffnet. In seiner Rede richtete er sich in beleidigender Form an den russischen Präsidenten Wladimir Putin. Führende Politiker*innen des Landes reagierten augenblicklich und verurteilten Gabunias Tirade aufs Schärfste als „Provokation“ und als „Krieg gegen sein eigenes Land“. Der Vorfall wurde auch in der russischen Staatduma diskutiert. Vertreter*innen aller Fraktionen des russischen Parlaments waren sich einig, dass darauf reagiert werden müsse. Schließlich beschloss die Duma, neue Wirtschaftssanktionen gegen Georgien zu verhängen. Wladimir Putin stellte sich jedoch gegen diese Entscheidung, „aus Respekt vor dem georgischen Volk“. Auch gegenüber Gabunia zeigte sich Putin betont nachsichtig: Die Eröffnung eines Verfahrens gegen ihn wäre eine „Ehre“, die er nicht verdiene. Eine weitere Eskalation der ohnehin angespannten Beziehung zwischen den beiden Ländern wurde damit vorerst abgewendet.

Die Rolle des Fernsehsenders Rustavi 2 auf der politischen Bühne Georgiens war damit allerdings noch nicht beendet. Der Oberste Gerichtshof Georgiens hatte bereits im März 2017 die Rückgabe des Senders an seinen ehemaligen Eigentümer angeordnet, den Aktionär Kibar Chalwaschi, der als regierungsnah gilt. Dagegen hatte Rustavi 2 geklagt. Am 18. Juli 2019 veröffentlichte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ein Urteil in der Rechtssache Rustavi 2. Das Straßburger Gericht stellte fest, dass es keinen Verstoß gegen die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Richter*innen des Gerichts in Tiflis gegeben habe. Die Übernahme der Eigentümerschaft durch Chalwaschi wurde damit rechtskräftig und innerhalb kürzester Zeit vollzogen. Unmittelbar darauf meldete sich der Oppositionspolitiker und ehemalige Verteidigungsminister Irakli Okruaschwili mit der Behauptung zu Wort, Rustavi 2 gehöre ihm und er habe Beweise dafür. Er sagte, dass er mit seiner Aussage nur deshalb gewartet habe, weil er auf den Beschluss des Europäischen Gerichtshofs gewartet habe.  Kurz nach dieser Aussage wurde auch er der Organisation von Gruppengewalt bei der Demonstration am 20. Juni beschuldigt und festgenommen. Beweise dafür wurde von der Generalstaatsanwaltschaft aus dem Videomaterial der Demonstration entnommen. Kritiker*innen sehen darin allerdings den Versuch der Regierungspartei, regierungskritische Stimmen und die Medienfreiheit im Vorfeld der Parlamentswahl 2020 einzudämmen.

„Das verzeihen wir nicht!“

Die georgische Regierungspartei ignorierte die Forderungen der Protestierenden nach Gacharias Rücktritt. Oppositionelle Politiker*innen und Politikexpert*innen äußerten die Vermutung, dass der Vorsitzende der Regierungspartei „Georgischer Traum“ Bidsina Iwanischwili vorhatte, den damaligen Premierminister Mamuka Bachtadse zu entlassen, um seinen von der Opposition als „Moskauer Mann“ bezeichneten Gacharia an dessen Platz zu befördern. Die am 2. September über Facebook veröffentlichte Nachricht Bachtadses über seinen Rücktritt war deshalb für viele Georgier*innen nicht überraschend. Dies ermöglichte Iwanischwili bereits am nächsten Tag die Ernennung des ehemaligen Innenministers Giorgi Gacharia zum Premierminister, der am 8. September von der georgischen Regierungspartei einstimmig gewählt wurde. Es war eines der Hauptanliegen der Protestierenden gewesen, dass Gacharia Verantwortung für das gewaltsame Vorgehen der Polizei zu Beginn der Proteste übernehmen und zurücktreten sollte. Dass er nun statt eines Rücktritts das höchste Amt des Staates erhielt, blieb nicht ohne Reaktion.

Die Organisator*innen der Zivilbewegung „Es ist beschämend“ zeigten Iwanischwili im September die „rote Karte“ und kündigten verschiedene landesweite Maßnahmen an, die die Bevölkerung über die „Machenschaften“ der Regierung bis zur Parlamentswahl 2020 aufklären sollte. An ihrem letzten Protesttag legten sie ein an Iwanischwili adressiertes Manifest vor. In diesem brachten sie ihre Verachtung gegenüber der einseitigen, oligarchischen und informellen Führungsweise Iwanischwilis zum Ausdruck. Sie warfen dem Parteivorsitzenden vor, alle Regierungszweige zu kaufen oder zu beschlagnahmen, alle Gesetzgebungs, Exekutiv- und Justizbehörden zu kontrollieren, und die Redefreiheit einzuschränken. Die Demonstrierenden kündigten an, es nicht zu verzeihen, dass er sich dem Willen der Menschen wiedersetzte und mit Gacharia den Mann beförderte, der sich an den Menschen schuldig gemacht habe.

Machtdemonstration oder Drahtseilakt?

Die Abfolge der Ereignisse und Entscheidungen wirft Besorgnis sowohl seitens der Betroffenen als auch von Beobachter*innen auf. Insbesondere die maximale Machtkonzentration in den Händen der regierenden politischen Partei wirkt sich negativ auf das Gleichgewicht der Machtverteilung und die Lebensfähigkeit der staatlichen Institutionen aus. Der häufige Wechsel von Ministern und Premierministern sieht für viele nach dem „Vollzug“ des Willens von Iwanischwili aus, der jeden politischen Prozess umgeht. Viele Regierungsentscheidungen werden als undemokratisch, als Einschränkung der Medienfreiheit und als Versuch der kompletten Machtübernahme durch Iwanischwili gewertet.  Das Narrativ der Regierung wird oft als russische Propaganda aufgefasst, die antiwestliche und antieuropäische Diskurse verbreitet und zur Polarisierung der Gesellschaft führt. Manche Expert*innen sprechen von einer Demonstration der Macht seitens der Regierung, während andere die Meinung vertreten, Iwanischwili habe keine Wahl und sei gezwungen, einen Drahtseilakt zu vollführen, um den „mächtigen Okkupant aus dem Norden“ nicht zu verärgern. Es bleibt abzuwarten, wie weit die georgische Regierungspartei ihre Machtdemonstration ausdehnen kann und wie glaubwürdig sie bis zur Parlamentswahl 2020 erscheint.  Die Umfragewerte nach den Protesten sprechen jedenfalls für sich: 60 Prozent der georgischen Bevölkerung sind unzufrieden mit der jetzigen Regierung und 68 Prozent sind der Meinung, dass die Regierung am 20. Juni übermäßige Gewalt gegen die Protestierenden angewendet hat


Soziologin Diana Bogishvili ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZOiS und Doktorandin an der Berlin Graduate School of Social Sciences der Humboldt-Universität zu Berlin.