Meet the Author | Juliane Fürst

„Man war entweder Hippie oder Mitglied in der sozialistischen Gemeinschaft“

22.07.2021
Boris Grebenshikov (3. v.l.) und Gena Zaitsev (2. v.r.), Ikonen der Sowjetischen Hippiebewegung in Leningrad in den späten 1970ern Archive Gena Zaitsev, Wende Museum, LA

Für ihr Buch „Flowers through Concrete” beschäftigte sich Juliane Fürst zwölf Jahre lang mit dem Phänomen sowjetischer Hippies. Auf Grundlage von Interviews mit Zeitzeug*innen und Recherchen bis hinein in KGB-Archive zeichnet sie das Bild einer bisher kaum erfassten Bewegung. Wer waren die Blumen, die durch Beton wuchsen?

Juliane Fürst

Was unterschied die Hippies in der Sowjetunion von denen im Westen?

Ich drehe die Frage mal um und sage erst, worin sie ähnlich waren. Die Hippies waren eine der ersten Manifestationen von Jugendkultur, die sich ganz explizit international sahen und agierten. Vergleicht man zum Beispiel Bilder von Hippies im Hyde Park in London und in Leningrad ein paar Jahre später, sind diese kaum zu unterscheiden. Es gibt tolle Fotografien aus der UdSSR, auf denen die äußeren Merkmale, die die Hippie-Symbolik ausmachten, unfehlbar zu erkennen sind: das lange Haar, die Blumen auf der Kleidung, die Schlaghosen, die bunten Hemden. Die sowjetischen Hippies haben das trotz aller Defizite dieser Sachen auf dem Markt gut hinbekommen. Neben den äußeren Merkmalen waren sie ihrem westlichen Vorbild ähnlich in dem, was sie getrieben hat: die Musik und die Suche nach einer besseren Welt, sowohl im Diesseits als auch in einer Parallelwelt – in ihrem eigenen spirituellen Universum, sei es durch Religion oder durch Drogen. Bei den Unterschieden wird es komplizierter, weil man darauf eingehen muss, was mit Hippies passiert, wenn sie versuchen, in einem spätsozialistischen Land zu überleben. Meine These ist, dass sowjetische Hippies als Imitation des Westens anfingen, aber durch die Umstände, in denen sie überleben mussten, eigene Charakteristiken entwickelten.

Die Hippies bezeichneten ihre Gemeinschaft ironisch als Sistema – das System. Wodurch zeichnete sich dieses System aus?

Die Hippie-Bewegung hat sich ein System erschaffen, in dem sie überleben konnte. Der große Unterschied zu westlichen Hippies ist, dass die sowjetischen Hippies sich mit „Sistema“ einen Begriff gegeben haben, der Programm wurde. Ich will nicht sagen, dass sie durchorganisiert waren, aber sie hatten Rituale, die es ihnen erleichterten, als eine Gemeinschaft in einem System zu überleben, das eigentlich wollte, dass sie verschwinden. Gemeinschaft allein ist schon eine Stärke. Aber es verbindet noch mehr, sich über die gesamte Sowjetunion zu vernetzen, sich seiner Geschichte bewusst zu sein und einen durchritualisierten Kalender zu haben. Der KGB, also der sowjetische Geheimdienst, wurde besonders aufmerksam, wenn Hippies durch die Sowjetunion reisten und sich miteinander getroffen haben. Es gab bestimmte Tage, an denen Hippies sich an bestimmten Stätten trafen. Diese Tage waren allen bekannt. All das hat diese Hippies “versowjetisiert”, bis zu dem Punkt, an dem sie sich exzellent dem offiziellen System angepasst hatten. Nicht in dem Sinne, dass sie so wurden wie das System, sondern dass sie sich genau in die Schwächen des Systems hineingebaut haben. So waren sie am Schluss ganz verzahnt mit dem Spätsozialismus, und als dieser unterging, gingen auch die sowjetischen Hippies unter.

In den USA entstand das Hippietum im Kontext der Friedensbewegung. Was waren in der Sowjetunion die Anfänge?

In der Sowjetunion waren die Anfänge eigentlich die Musik der 1960er Jahre: es war die Musik aus dem Westen, vor allem der Beatles, aber auch der Rolling Stones und Doors. Das durch diese Musik hervorgerufene Lebensgefühl wollten junge Leute auch in ihrem Äußeren ausdrücken. Sie fingen an, sich dafür zu interessieren, wer die Leute in diesen Bands waren und stießen dabei schnell auf die Hippiebewegung. Interessanterweise hat sich die Friedensbewegung im Zusammenhang mit dem Vietnamkrieg in einigen Punkten mit dem offiziellen sowjetischen System überschnitten. Deswegen gab es am Anfang auch wohlwollende Artikel in der sowjetischen Presse über Hippies. Die sowjetische Führung war sich nicht sicher, wie man diese Jugendlichen aus dem Westen bewerten sollte, die gegen alles waren, wogegen man selbst auch war, wie den Kapitalismus, den Materialismus und den Krieg in Vietnam, aber die doch nicht in das sozialistisch-marxistische Bild passten. So entstanden einige dieser etwas undefinierten Artikel in der sowjetischen Presse, von denen manche einen unglaublichen Einfluss auf junge Leute hatten. Am Anfang nahmen es viele junge Sowjethippies aufgrund der vielen Überlappungen oft gar nicht als Widerspruch zu ihrem sowjetischen Dasein wahr, Hippie zu werden. Erst mit der Zeit entwickelte sich ein Antagonismus und damit auch das antisowjetische Element in der Hippie-Bewegung.

Wie ging die Sowjetunion mit dieser Bewegung um, nachdem sie sich anfangs wohlwollend verhalten hatte?

Schon 1969 gab es den ersten kritischen Artikel über einheimische Hippies in Lettland. Ab 1971 wird dann klar erkennbar, dass man Hippies nicht mehr tolerierte, sondern als Feinde des sozialistischen Systems betrachtete. Vor allen Dingen ihr Äußeres störte die sowjetische Obrigkeit gewaltig. 1971 kam es in Moskau zu einer großen Hippiedemonstration gegen den Vietnamkrieg, die zwar inhaltlich mit der offiziellen Politik der Sowjetunion übereinstimmte, aber nicht offiziell genehmigt war oder sogar vom KGB provoziert wurde. Es kam zu massenweise Verhaftungen. Anfangs wurden nur einige Rädelsführer zu zwei Wochen gemeinnütziger Arbeit verurteilt, aber ein Jahr später wurden viele der damals Verhafteten in die Armee zwangsrekrutiert und an die chinesische Grenze geschickt. Und damit war klar: Hippie war man jetzt nicht mehr einfach so. Man war entweder Hippie oder Mitglied in der sozialistischen Gemeinschaft. Wenn man Hippie war, konnte man nicht mehr an der Uni immatrikuliert sein oder einen Arbeitsplatz haben, an dem es auch nur ein Minimum an ideologischer Anforderung gab. Hippies wurden Teil der Generation, die Boris Grebenshikov, Sänger der Gruppe Aquarium, später als die der Hofarbeiter und Lastenträger bezeichnete. Sie rutschten in Berufe ab, die als so geringfügig angesehen wurden, dass man dort auch mit langen Haaren und nichtsowjetischer Einstellung arbeiten durfte. Weil arbeiten musste ja jeder. Das war Gesetz. Es gab auch eine Reihe von Vorfällen, die unter der sowjetischen Obrigkeit den Eindruck verstärkten, dass Hippies potenziell eine ernsthafte Gefahr für die sowjetische Ordnung darstellen könnten. In der litauischen Stadt Kaunas übergoss sich beispielsweise im Mai 1972 ein junger langhaariger Fabrikarbeiter namens Romas Kalanta aus Protest gegen das Sowjetregime mit Benzin und zündete sich an. Die örtlichen Hippies wurden sofort verhaftet oder flohen vor den Repressalien. Die Jugendlichen, die mit ihnen sympathisierten, gingen am Tag der Beerdigung von Romas Kalanta auf die Straße und demonstrierten für Freiheit für Hippies und Freiheit für Litauen. Damit wurden nationale und jugendkulturelle Forderungen vermischt, was zu höchster Beunruhigung auf staatlicher Seite führte. Der Aufstand in Kaunas dauerte drei Tage.

Wodurch unterschieden sich die Hippies von anderen Subkulturen, wie Dissident*innen und Nationalist*innen?

Nach meiner Auffassung waren Hippies auch Dissidenten, auf jeden Fall auf der kulturellen Ebene, zum Teil aber eben auch auf der politischen. Sie haben es nur anders ausgedrückt. Die sowjetische Hippiebewegung war eine von wenigen wirklich sowjetischen Erscheinungen, insofern sie sich aus ganz verschiedenen Ethnien und Gruppen aus unterschiedlichen Sowjetrepubliken zu einer Gemeinschaft zusammenschloss – einer gemeinsamen Wertegemeinschaft. Nationalismus war nur selten ein Thema, obwohl viele Hippies sich später sehr wohl nationalen und nationalistischen Ideen verschrieben. Wenn man sich die Hippie-Ideologie in Ost und West näher anschaut, gibt es viele Punkte, die dem Nationalistischen nicht so fern sind: die Liebe zum Urtümlichen, zum Authentischen und zum nicht Modernisierten. Das klassische Dissidententum war unter den Hippies nicht beliebt, weil die allgemeine Parole „Depolitisierung“ war. Dissidenten waren für Hippies nur eine Umkehrung sowjetsicher Obrigkeit. Die einen sind dafür, die anderen dagegen. Ein Bon-Mot lautete: Während ihr euch streitet, sitzen wir am Fluss und lassen die Haare wachsen. Verweigerung hieß das Grundprinzip. Das stand dem reformorientierten Ansatz der Dissidenten natürlich entgegen.

Das Gespräch führte Elena Goerttler-Reck, Volontärin im Bereich Kommunikation des ZOiS.


Juliane Fürst ist Historikerin am Leibnitz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam. Sie forscht dort zu Jugend-, Protest- und Subkulturen im Spät- und Postsozialismus, wobei die Geschichte der Hippies in der Sowjetunion sie schon lange Zeit auf ihrem Forschungsweg begleitet.

Juliane Fürst, "Flowers through Concrete. Explorations in Soviet Hippieland" (2021), Oxford University Press.