„Der Begriff des Völkermords birgt die Gefahr, in einen Topf zu werfen, was oftmals sehr unterschiedliche Erfahrungen sind“
Was ist ethisches politisches Gedenken und was ist es nicht?
Die Ethik des politischen Gedenkens ist grob gesprochen ein multidimensionaler Rahmen. Es ist der Gedanke, dass es nicht ausreicht, nur ein Kriterium zu erfüllen, damit ein Gedenken ethisch ist – es sollten mehrere und im Idealfall alle der damit verbundenen Kriterien erfüllt sein. Eines dieser Kriterien ist zum Beispiel die Frage der Absicht. Es ist eine nachvollziehbare Absicht, die gruppeninterne Solidarität zu stärken, es ist aber noch keine Absicht, die auf eine bessere Zukunft hinarbeitet, die einen besseren Frieden in der Zukunft möglich macht. Gedenken sollte in guter Absicht geschehen, es braucht aber auch legitime Autorität, wie wir sie nennen. Autorität im Sinne der Entscheidungsfähigkeit, aber auch die Form von Legitimität, die entsteht, wenn die Menschen in den Prozess eingebunden werden. Es reicht also nicht aus, wenn politische Führungspersonen sagen: Ich habe beschlossen, dass dies die richtige Entscheidung ist, und werde die Statue entfernen lassen. Um über legitime Autorität zu verfügen, sollte der Entscheidung eine öffentliche Diskussion vorangehen. Es geht nicht nur darum, dass das Gedenken bestimmten ethischen Kriterien genügen muss. Im besten Fall geht es in der Ethik darum, wie wir leben wollen, und wie wir unsere Art zu leben bewahren können. Es geht darum, nachhaltige Lösungen zu finden, die für so viele Menschen wie möglich funktionieren.
Irlands kürzliche „Decade of Centenaries“ spielt in ihrem Buch eine wichtige Rolle als Beispiel eines ethischen politischen Gedenkens. Es fand jedoch mit einem beträchtlichen zeitlichen Abstand zu den Ereignissen statt, an die erinnert wurde. Ist das immer der Fall?
Ja, Irland ist meiner Meinung nach ein wichtiges Beispiel, wo wir einen Präsidenten erleben, der sehr aktiv Einfluss auf den Ton der Debatte nimmt. In der Tat ist es ein Fall, bei dem Menschen über ein Jahrhundert zurückblicken. Es gibt Anzeichen, dass sich das heutzutage viel stärker beschleunigt, auch aufgrund der sozialen Medien, die einerseits flüchtig und andererseits sehr festgelegt, sehr textgebunden sind. Das ist etwas ganz anderes als das gesprochene Wort; als das, was Menschen sagen.
Eines der Dinge, die uns im Buch wichtig sind, ist der Gedanke, dass es beim Gedenken nicht nur darum geht, was irgendwo irgendwelche Politiker*innen oder Wissenschaftler*innen tun sollten. Ich habe darauf hingewiesen, wie jede*r Bürger*in aktiv werden kann, zum Beispiel, indem man auf einer Seite wie Wikipedia in Vergessenheit geratenes historisches Erbe sichtbar macht. Das kann natürlich etwas sein, das erst vor sechs Monaten passiert ist, aber schon Gefahr läuft, vergessen zu werden. Es kann aber genauso gut etwas sein, was Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte zurückliegt.
Sie sagen in Ihrem Buch, dass „Gedenken eine begründete Aussicht auf Erfolg benötigt, einen besseren Frieden in der Zukunft zu schaffen“. Was meinen Sie damit?
Ja, eine „begründete Aussicht auf Erfolg“ ist eines der vier Kriterien, die wir für das lus ad Memoriam aufstellen, also für das, woran erinnert werden sollte. Manchmal haben Sie einen guten Zweck. Nehmen Sie das Beispiel des Umgangs mit Stalin in seiner Geburtsstadt Gori in Georgien, wo es ein Stalinmuseum gibt. Sie müssen sich die Frage stellen, was Kinder über Demokratie lernen, wenn sie in ein solches Museum gehen. Man könnte argumentieren, dass das Museum geschlossen werden sollte. Und tatsächlich haben einige Diplomat*innen seine Schließung gefordert, allerdings hat das realistisch gesehen keine begründete Aussicht auf Erfolg, denn die lokale Bevölkerung wird sagen: Das hier ist die eine Sache, die Tourist*innen in unsere ansonsten in vielerlei Hinsicht verlorene Stadt bringt. Es ist die eine Sache, auf die wir stolz sein können.
Welche anderen Lösungen könnte es geben? Einige Leute haben vorgeschlagen, das Museum in Museum des Stalinismus umzubenennen. Das ist nur eine kleine Änderung, die aber einen großen Unterschied macht. Außerdem gibt es die Idee, alle zwei Jahre eine Ausstellung zu veranstalten, zu der Künstler*innen eingeladen werden, um sich mit dieser Art von Erbe auseinanderzusetzen und einen Umgang damit zu finden. Anstatt den Menschen etwas wegzunehmen, fügt man also etwas hinzu, gibt ihnen etwas. Hier könnte unserer Ansicht nach der lokalen Forschung eine wichtige Rolle zukommen, also Menschen, die verstehen, was für Worte verwendet werden, welche Begriffe bei den Menschen vor Ort auf Resonanz stoßen und was ihre Werte sind. So würde es nicht nur um Leute gehen, die von außerhalb kommen und sagen: Schaut, hier ist dieser ethische Rahmen, nun fangt an, ihn umzusetzen. Es ist sehr wichtig darauf zu achten, was bei den Menschen auf Resonanz stößt, um sie mit an Bord bringen zu können.
Können Sie ihre ambivalente Haltung gegenüber dem Kampf um die Anerkennung von Völkermord in Armenien und anderen Teilen der Welt erklären?
Das ist natürlich ein umstrittenes und heikles Gebiet. Ich glaube, dass bei der Anerkennung von Völkermorden die Gefahr besteht, dass es zu einer Art von Ja-Nein-Entscheidung wird, bei der deine Erfahrung irgendwie zu einer geringeren Kategorie von Leid wird, wenn du nicht beweisen kannst, dass sie einen Völkermord darstellt. Wie einige Leute angemerkt haben, birgt der Begriff des Völkermordes die Gefahr, in einen Topf zu werfen, was oftmals sehr unterschiedliche Erfahrungen sind. In der Forschung zum Völkermord an den Armenier*innen gab es schon früh den Versuch festzustellen, auf welche Weisen er der Schoah ähnelte, obwohl er in Wirklichkeit in vielfacher Hinsicht sehr, sehr anders war. Solche Untaten sind oft sehr spezifisch, mit ihrem wie und wann, und auch in der Geographie. Hier besteht die Gefahr, den Blick für die Einzigartigkeit der Erfahrung zu verlieren. Auch in meiner persönlichen Erfahrung mit dem Gedenken an bestimmte Persönlichkeiten in Armenien war einer der eindrücklichsten Momente, als ich bei einer Veranstaltung dabei war, bei der Namen verlesen wurde, und ich nach vorne gebeten wurde, um die Namen von Menschen zu verlesen, die im Zuge der Säuberungen 1937 getötet wurden. Ich kann mich daran erinnern, wie ich über einen Namen stolperte, Sogomon Bojachjian, da ich ihn in kyrillischen Buchstaben las und nicht wusste, welche Silben ich betonen sollte, und jemand aus der versammelten Gruppe schaltete sich ein und half mir – in dem Moment musste ich an diese Einzigartigkeit denken, an diesen Bauern aus dem Dorf Basargejar im ländlichen Armenien, der aufgrund von politischer Gewalt sein Leben verloren hatte.
Natürlich verstehe ich, dass es Menschen, die etwas Furchtbares erlitten haben und bei denen diese Erfahrung über Generationen hinweg weitergetragen wurde, fast schon als ein Zeichen mangelnden Respekts erscheinen kann, wenn man sagt, hm, vielleicht trifft der Begriff Völkermord es nicht ganz. Es ist aber so wichtig, sehr spezifisch zu sein, was Zeit, Ort und Namen betrifft. Ich betrachte es als ein Zeichen des Respekts, wenn Leute wie Walter Laqueur skeptisch gegenüber Begriffen wie Holocaust sind und stattdessen von HaSchoah oder der Schoah sprechen, um den Moment der Zerrüttung in der Sprache der Menschen zu beschreiben, die ihn erlebt haben.
Sie beziehen sich an vielen Stellen in Ihrem Buch auf den Aurora-Preis zur Förderung der Menschlichkeit – können Sie uns etwas darüber erzählen?
Der Aurora-Preis ist ein globaler humanitärer Award, der Menschen ehrt, die ihr eigenes Leben riskieren, um das Leben Anderer, die von gewaltsamen Konflikten oder Gräueltaten betroffen sind, zu retten. Eine Handvoll von Armenier*innen hat den Preis ins Leben gerufen. Sie gingen von dieser sehr besonderen armenischen Erfahrung aus, dieser gewaltigen Entwurzelung, die der Erfahrung des armenischen Völkermords eingeschrieben ist, und sagten sich, um einen ihrer Gründer*innen zu zitieren: Ich kann den Menschen, die meine Großeltern retteten, nicht danken, aber ich kann jenen danken, die heutzutage auf der ganzen Welt andere Menschen retten. Mit dem Opferstatus geht das Risiko einher, ein eigenes zirkuläres Narrativ zu erschaffen. Der Aurora-Preis zeigt einen Weg auf, da herauszukommen. Es geht ums Überleben. Es geht darum, wieder aufzuleben und zu gedeihen, weil es sehr wichtig ist, dass die Erfahrung des Opferseins nicht über Generationen hinweg in die Lebensgeschichten der Menschen eingebrannt ist. Und es geht darum, etwas zurückzugeben.
Daneben gibt es noch einen weiteren Grund, warum wir den Aurora-Preis in unserem Buch besonders hervorheben. Es existiert die Vorstellung, im Hinblick auf öffentliche Diskussionen über das Gedenken würden Innovationen nur aus dem Zentrum kommen. Ich glaube, dass bestimmte Mainstreamdebatten in manchen Ländern in eine richtige Sackgasse geraten können, teilweise, weil sie an bestehende Differenzen andocken. Und der Aurora-Preis macht deutlich, dass ein anderer Blick zumindest auf manche unserer Herausforderungen manchmal von der Peripherie kommen kann. Deshalb hat der Preis es so sehr verdient, dass man ihn untersucht und sich mit ihm beschäftigt.
Das Interview führte Anne Boden, Redakteurin am ZOiS.
Hans Gutbrod ist Professor an der Ilia State University in Tiflis und Senior Fellow am Center for Peace and Conflict Studies der Seton Hall University. Er ist seit 1999 im Kaukasus tätig und war von 2006 bis 2012 Regionaldirektor des Caucasus Research Resource Centers.
Hans Gutbrod und David Wood, Ethics of Political Commemoration. Towards a New Paradigm, Springer Palgrave Macmillan, 2024.