„Der Fokus auf Putin hat den Blick verengt“
In ihrem Buch „Russland und der Westen“ untersucht Katharina Bluhm wie aus der illiberal-konservative Gegenbewegung zu Liberalismus und Westintegration, die seit dem Ende der 1990er-Jahre versucht hatte, sich im politischen Feld zu etablieren, ein Staatsprojekt wird, das immer weiter forciert wird. Dabei spielen nicht nur Ideologie und Machtpolitik, sondern auch politökonomische und sozialpolitische Faktoren eine Rolle.
Was war Ihre Motivation, dieses Buch zu schreiben? Welche Dimension hat Ihnen in der wissenschaftlichen oder auch in der öffentlichen Debatte zu Russland gefehlt?
In der Tat war ein zentrales Motiv die öffentliche Debatte. Ich habe das Buch ungefähr vor fünf Jahren angefangen und beobachtet, dass die öffentliche Debatte doch sehr stark auf den russischen Präsidenten Wladimir Putin fokussiert war; was er gelesen hat, was er schreibt, wer persönlichen Zugang zu ihm hat und all diese Dinge. Ich will nicht bestreiten, dass in einem personalisierten System diese Fragen wichtig sind, aber sie haben den Blick verengt. Das eine ist, dass die Bewegung gegen den Liberalismus und gegen die Westintegration, die sich beginnend in den 2000er-Jahren sukzessive aufgebaut hat, eine breite gesellschaftlich-politische Bewegung ist und nicht einfach von oben, einer Person oder einem kleinen Kreis von Leuten mit ein paar Spindoktoren ausgeht.
Heute ist relativ klar, dass Ideologie eine Rolle spielt, aber als ich mit dem Buch angefangen habe, galt Putin eher als ein Pragmatiker. Auch heute wird zum Teil ja noch angezweifelt, dass es überhaupt so etwas wie eine Staatsideologie gibt. Das war das zweite wichtige Motiv. Das dritte Motiv war, dass, als diese ideologische Diskussion gestartet ist, sehr viel über Identität, Großmacht und Außenpolitik gesprochen wurde. Aber der Grundkonflikt innerhalb Russlands, der auch eine entscheidende Rolle für die Konflikte zwischen den Eliten und den weiteren Kreisen um die Elite spielt, dreht sich um die Frage nach einem Wirtschafts- und Sozialmodell, das funktioniert für Russland. Die politökonomische, sozialpolitische Fundierung dieser Fragen, die fehlte auch. Und schließlich wurde vor allem zuletzt auch immer die Kontinuität betont, vom Zarenreich über die Sowjetunion bis zum Putinismus. Das ist mein viertes Anliegen gewesen, auch ein Stück weit zu rekonstruieren, dass Geschichte nicht determiniert, sondern offen ist, und die Scheidewege oder Knackpunkte herauszuarbeiten.
Noch einmal einen Schritt zurück zum Titel. Was verbirgt sich eigentlich hinter diesem Begriffskonstrukt Westen? Warum ist es so wichtig im russischen Denken?
Im Zentrum des Buches steht der neue russische Konservatismus, also, der Versuch, über den Konservatismus eine Alternative zur Westintegration, zum westlichen Liberalismus, wie wir ihn heute kennen, auch ideologisch zu etablieren. Dafür auch Bündnispartner im Westen zu finden, aber eben vor allem eine Alternative zum liberalen, kosmopolitischen Europa zu formulieren.
Ich betrachte den Westen, wenn er denn im Buch vorkommt, primär aus der Perspektive Russlands. Und was der Westen ist, hat sich über dieses Jahrhundert hinweg auch verändert. Am Anfang war das primär Westeuropa, also nicht mal Deutschland, sondern Frankreich, Großbritannien. Mit der Sowjetunion und der Verschiebung der hegemonialen Rolle als Weltmacht von Europa weg hin zu den USA war es ganz klar der transatlantische Westen mit den USA als Führungsfigur. Das ist im Grunde auch heute noch das Konzept des Westens. Später, im Zuge der Globalisierung, ist das transnationale Finanzkapital hinzugekommen. Das ist heute Westen – eine soziale Konstruktion. Aber die Europäer und die USA definieren sich auch als Westen. Das ist eine Selbstkonstruktion, die einige Probleme mit sich bringt, weil sie eben lange Zeit auch ein Stück weit von Überlegenheitsgefühlen gegenüber dem Osten gelebt hat. Das wird gerade massiv erschüttert, aber auch das spielt eine Rolle: die Wahrnehmung von Asymmetrie.
Wie vollzieht sich die Abwendung vom Westen, deren Ergebnis wir jetzt sehen?
Die Herausforderung des Westens ist ein stufenweiser Prozess. Und der ist natürlich immer verkoppelt mit außenpolitischen und innenpolitischen Ereignissen, die in Wechselwirkung stehen. Putin ist nicht als Antiwestler angetreten. Wir sehen also auch bei ihm eine Eskalationsdynamik. Anfangs hat er versucht, sowohl eine Annäherung an die USA wie auch die Zusammenarbeit mit der Europäischen Union zu pushen. Es gab in der ersten Amtszeit und über die gesamten 2000er Jahre das Konzept von Großeuropa, das bei uns kaum, in Russland aber intensiv diskutiert worden ist, diese Idee des Freihandels von Lissabon bis Wladiwostok.
Und dann gibt es Einschnitte vor allem um 2004/2005, also nach der Jukos-Affaire, die zu langjähriger Lagerhaft von Michail Chodorkowski geführt hatte, und der Orangen Revolution in der Ukraine. Die einsetzende Westorientierung der Ukraine, die Ausweitung der NATO und EU, aber auch das zögerliche Eingehen auf solche Projekte wie Großeuropa haben zur Enttäuschung der russischen Eliten und Putins über den „Westen“ geführt, während Putin gleichzeitig seine Macht konsolidieren konnte. Seine berühmte Münchner Rede von 2007 ist dann die offensive Behauptung der sogenannten souveränen Außenpolitik: die Abrechnung mit dem Unilateralismus der USA und gleichzeitig eben auch eine Warnung an den Westen: „Geht nicht weiter mit der Expansion der NATO“. Es war immer noch ein „Dialog der Zivilisationen“, den er vorschlug, was auch schon eine Veränderung darstellt. Denn wenn man sagt: „Dialog der Zivilisationen", sagt man eben nicht mehr: „Russland ist Teil von Europa“, was 1999/2000 aber noch das Wording war. Dann kam 2008 Georgien und die Quasi-Beitrittszusage zur NATO sowohl an Georgien als auch die Ukraine, und das ist der wirkliche Bruch. Hier ist der Punkt, an dem Russland sich vom Westen wiederholt nicht anerkannt sieht und es in seinem Selbstverständnis als Großmacht mit Einflusszonen in Europa eben auch nicht wird. Dann hatten wir die globale Finanzmarktkrise, und wir hatten die Präsidentschaft Medwedjews 2008 bis 2012, mit dem es noch mal einen „Reset“ der Beziehungen mit den USA unter Präsident Obama gab.
Wann kommt es dann zu dieser fundamentalen, ideologisch formulierten Abkehr vom Westen?
Die auschlaggebende Veränderung erfolgt in der Tat 2012, was sich in der Literatur als „konservative Wende“ mehr oder weniger auch etabliert hat. Ich würde sagen, das ist der Punkt, an dem eine illiberal-konservative Bewegung, die versucht hatte, sich im politischen Feld zu etablieren, sozusagen in ein Staatsprojekt transformiert wird. Da ist es nicht mehr nur die Partei Einiges Russland, die sagt: „Okay, wir sind eigentlich eine konservative Partei für die Mehrheit“, sondern man sagt: „Russland ist konservativ, Russland ist nicht liberal.“ Damit wird es so eine Art Staatskonservatismus, eine staatliche Doktrin, die dann auch wieder in Wellen forciert wird. Und seit 2020 kann man das auch in der Verfassung nachlesen.
Wenn man bestimmte geschichtspolitische und anti-westliche Auslassungen hört, fragt man sich zwangsläufig: „Glauben die da eigentlich selber dran?“ Welche Rolle spielt die Ideologie tatsächlich für die russische Führung?
Erstens muss man davon ausgehen, dass es nach wie vor erhebliche Konfliktlinien gibt in der Putin-Administration und in den weiteren Kreisen der russischen Eliten. Es gibt also keinen uniformen Glauben oder Konsens zu diesem quasi staatlich verordneten Konservatismus oder darüber, was das für Russland passende Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell sein könnte. Im Gegenteil, ein Großteil der russischen Eliten ist nach wie vor sehr stark westorientiert, und das ist ja gerade auch der Vorwurf derjenigen, die diese Ideologie vorangetrieben haben, zu sagen: „Ihr seid ja eigentlich Landesverräter, ihr seid Kompradore des Westens." Dann gibt es in dem Augenblick, in dem etwas gewissermaßen Staatsräson wird, natürlich eine Unmenge an Opportunismus, bei dem man nicht weiß, was die Leute wirklich glauben. Deshalb hat mich immer die Avantgarde interessiert, also diejenigen, die diese Ideen vorantreiben, bevor sie Mainstream wurden, und auch das bei weitem nicht vollumfänglich. Das sind die Leute, die auch ihre Biografien in dieses Projekt investiert haben: Der ehemalige Kulturminister Wladimir Medinski, der jetzige Vorsitzende der Duma Wjatscheslaw Wolodin oder der Sekretär des Sicherheitsrates Nikolai Patruschew sind Angehörige der politischen Elite, die mit einiger Sicherheit viele Ideen der illiberal-konservativen Bewegung gegen den (Neo-)Liberalismus und die Westintegration teilen, um nur einige zu nennen. Es gibt also schon Vertreter und auch Träger dieser ideologischen Überzeugung innerhalb der Putin-Administration.
Was Putin selbst denkt – ich weiß gar nicht, ob das so wichtig ist. Aber ich denke schon, dass es eine Radikalisierung und eine große Enttäuschung bei ihm gab und dass er zum erheblichen Teil, auch stärker als die früheren „System-Liberalen“ in Teilen der Elite diesen Vorstellungen anhängt. Auch wenn er die Entscheidung zum Angriffskrieg irgendwann 2021 allein oder in einem sehr engen Kreis gefällt hat, diese Entscheidung findet Resonanz bei Ideologen im engeren und weiteren Umfeld der Eliten, in deren Diskursen, bei der Führung der Russisch-Orthodoxen Kirche und den von ihr und dem Staat geförderten konservativen, orthodoxen und traditionalistischen Organisationen der Zivilgesellschaft. Diese Akteure fungieren gleichsam als Echokammer oder Resonanzboden, treiben aber auch den Diskurs an. Insofern kann zwar die Entscheidung zum Krieg eine einsame gewesen sein, aber es gibt sozusagen eine aktive Unterstützung in einem bestimmten Segment der russischen Gesellschaft, die sich nicht nur als Folge von Propaganda begreifen lässt.
Das Gespräch führte Stefanie Orphal, Leiterin des Bereichs Kommunikation am ZOiS.
Katharina Bluhm ist Professorin für Soziologie mit dem Schwerpunkt Osteuropa an der Freien Universität Berlin.
Bluhm, Katharina: Russland und der Westen. Ideologie, Ökonomie und Politik seit dem Ende der Sowjetunion. Matthes & Seitz, 2023.