Meet the Author | Tsypylma Darieva

„Die Auseinandersetzung der Diaspora mit ihrem Heimatland bleibt pluralistisch, mehrdeutig und dezentralisiert“

28.09.2023
Jerewan ist die erste Anlaufstelle für viele junge Menschen armenischer Herkunft, die in die Republik Armenien reisen. IMAGO / agefotostock

Seit den 1990ern sind viele junge Angehörige der armenischen Diaspora als Freiwillige nach Armenien gegangen. In ihrem Buch setzt Tsypylma Darieva sich kritisch mit ihren Beweggründen auseinander und fragt, wie der direkte Kontakt zum Land der Vorfahr*innen ihre Identität und politische Sozialisation beeinflusst.

Aus dem Englischen übersetzt von Armin Wolking.

Was meinen Sie, wenn Sie in Ihrem Buch von Roots Mobility sprechen, und was macht Armenien in dieser Hinsicht zu einer interessanten Fallstudie?

Migrationsströme stehen aktuell natürlich im Mittelpunkt globaler Debatten. In meinem Buch schaue ich mir eine besondere Form der transnationalen Mobilität an, die ich Roots Mobility nenne. Dabei stehen die „Wurzeln“ für die Herkunft und ethnischen Ursprünge der Menschen und „Mobilität“ dafür, an einen besonderen Ort zu gehen und sich mit ihm auseinanderzusetzen: dem „Land der Vorfahr*innen“. Armenien ist traditionell ein Auswanderungsland gewesen und verfügt über eine große Diaspora. Bis in die 1990er-Jahre war der Kontakt mit dem Heimatland jedoch schwierig. Nachdem die Republik Armenien 1991 unabhängig wurde, zog sie die Aufmerksamkeit einer neuen Generation von Diasporaorganisationen in den Vereinigten Staaten auf sich, die durch Aktivitäten wie Freiwilligendienste, Reisen und Investitionen in Verbindung mit ihrem Heimatland treten wollten. Seitdem hat eine große Anzahl von jungen Erwachsenen armenischer Herkunft mithilfe von Organisationen wie Birthright Armenia und dem Armenischen Freiwilligenkorps „bedeutungsvolle“ Reisen ins Heimatland unternommen. Diese jungen Menschen fühlen sich Armenien emotional verbunden, obwohl ihre Vorfahr*innen in einigen Fällen aus Gebieten des ehemaligen Osmanisches Reiches stammen, die heute zur Türkei gehören. In meinem Buch untersuche ich, was sie dazu bewegt, nach Armenien zu reisen, und wie sie ihr mythisches Heimatland vor Ort erleben. Außerdem hat mich interessiert, welchen Einfluss diese Art von Diasporamobilität – die manchmal mit sogenanntem Heritage Tourism in einen Topf geworfen wird – auf die Identität und politische Sozialisation junger Menschen aus der armenischen Diaspora hat. 

Wer sind die Roots Migrants, die nach Armenien kommen, und was treibt sie an?

Sowohl geographisch als auch im Hinblick auf ihren sozialen und kulturellen Hintergrund handelt es sich um eine heterogene Gruppe. Allerdings kommt der Großteil von ihnen aus den USA und Kanada. Interessant ist, dass die Familie bei ihrer Entscheidung für einen Freiwilligendienst in Armenien in der Regel nicht der entscheidende Faktor ist; eher sind es eine Schule, ein Verein in ihrer Heimatstadt, eine lokale armenische Kirche oder Facebook-Netzwerke. Unter den Roots Migrants finden sich Freiwillige, junge Fachkräfte, Diasporaaktivist*innen und Studierende, die in der Regel eher aus der urbanen Mittelschicht kommen und multiethnische Hintergründe haben.

Sie haben unterschiedliche Beweggründe, nach Armenien zu kommen. Für manche mag es der symbolische Akt sein, mit etwas Heiligem in Berührung zu kommen, von dem ihre Eltern immer gesprochen haben; die moralische Verpflichtung, etwas „zurückzugeben“; das Versprechen von Abenteuer; oder die Gelegenheit, ihre Fähigkeiten in einer neuen Umgebung zu erproben. Sicherlich spielt die emotionale Verbundenheit mit dem Heimatland eine Rolle, jedoch zeigt eine genauere Untersuchung der Aussagen der jungen Menschen, dass für die Freiwilligen vor allem zwei Motive von Bedeutung sind: der Wunsch, die eigenen Karrierechancen zu verbessern, und der Wunsch nach einem Abenteuer an einem entlegenen Ort der Welt. Ihre Motive sind also nicht völlig altruistisch und die Freiwilligen aus der Diaspora wissen sehr genau, dass Mobilität eine Möglichkeit ist, ihren sozialen Status in der Gesellschaft, in der sie aufgewachsen sind, zu verbessern.

Welche Auswirkungen haben die Roots Migrants auf die wirtschaftliche, soziale und politische Entwicklung in Armenien – falls sie überhaupt welche haben?

Der Diskurs um Roots Mobility bringt zuweilen die Vorstellung mit sich, dass Armenier*innen aus der westlichen Diaspora damit zur wirtschaftlichen und politischen Entwicklung Armeniens beitragen würden. Ich bin da jedoch etwas skeptisch. Junge Angehörige der armenischen Diaspora wurden zwar erfolgreich dazu gebracht, in ihr Heimatland zu reisen und es zu entdecken, jedoch sind ihre Reisen individuell, projektbasiert und nicht sonderlich strategisch. Sie sehen ihre Tätigkeiten als individuellen Austausch mit ihrem Heimatland und suchen nach Nischen, sich zu engagieren, die nicht vom armenischen Staat kontrolliert werden. Viele von ihnen entscheiden sich für die Arbeit an ausgewählten Orten der „Heimat“, etwa einem bestimmten Stadtviertel, einem Dorf, einer Schule oder in einem bestimmten sozialen Programm. Das kann sich auf der lokalen Ebene bemerkbar machen, jedoch konnte ich im Allgemeinen kaum Auswirkungen auf Armeniens Gesamtentwicklung feststellen. Wenn überhaupt werden die Auswirkungen stärker in dem Land gespürt, aus dem die Freiwilligen kommen, wo ihre Erfahrungen dazu beigetragen, den Geist der Diaspora am Leben zu halten.

Von den wechselnden Regierungen der Republik Armenien waren alle sehr bemüht darum, Mitglieder der Diaspora anzuziehen und von deren materiellen und intellektuellen Ressourcen zu profitieren. 2006 wurde ein Gesetz zur doppelten Staatsbürgerschaft erlassen und kurz darauf ein Diasporaministerium eingerichtet, welches mittlerweile in das Büro des Hohen Kommissars für Diasporaangelegenheiten umbenannt wurde. Das Jahr 2018 wurde zum Jahr der „spirituellen“ Heimkehr in die Republik Armenien erklärt. Staatliche Institutionen riefen ethnische Armenier*innen aus dem Ausland dazu auf, zumindest „virtuell“ und „temporär“ in das Land ihrer Vorfahr*innen zurückzukehren, indem sie „in Armenien leben und im Ausland arbeiten“, „in der Heimat ein Bankkonto eröffnen“ und „alle drei Jahre in Armenien Urlaub machen“. Bisher konnten diese Initiativen nur bescheidene Erfolge vorweisen. Zwar mögen sich die Armenier*innen in der Diaspora, an die sich die Initiativen richten, ethnisch als Armenier*innen betrachten, politisch fühlen sie sich der Republik Armenien jedoch häufig nicht verbunden und definieren sich selbst nicht über einen einzelnen Nationalstaat. Bislang bleibt die Auseinandersetzung der Diaspora mit ihrem Heimatland pluralistisch, mehrdeutig und dezentralisiert.

Können Sie etwas über den Wertekonflikt sagen, der zuweilen entsteht, wenn Akteur*innen aus der Diaspora ihr Heimatland hautnah erleben?

Abgesehen von Unterschieden der Sprache, der Kultur und der politischen Werte besteht ein Ungleichgewicht in den Machtverhältnissen zwischen den relativ wohlhabenden Roots Migrants und der einheimischen armenischen Bevölkerung. Das schürt zuweilen ein Gefühl der Desillusionierung und einen Mangel an gegenseitigem Vertrauen. So fühlten sich zum Beispiel manche der jungen Freiwilligen, mit denen ich sprach, dem armenischen Territorium wieder sehr stark verbunden, während andere eine immer größere Kluft zwischen zwei unterschiedlichen Welten verspürten. Manche Projekte der Diaspora führen nicht zu den erwarteten Ergebnissen und bleiben „einseitig“, da sie eher von moralischem Nutzen für die Freiwilligen sind, als dem verarmten Armenien die erhofften Veränderungen zu bringen.

Hat Russlands Krieg gegen die Ukraine spürbare Auswirkungen auf die von Ihnen beschriebenen Programme?

Ja, das hat er. Programme, die Menschen aus der armenischen Diaspora die „Rückkehr“ in ihr Heimatland erleichtern sollen, haben einen sprunghaften Anstieg an Bewerbungen von Menschen armenischer Herkunft aus Russland verzeichnet, die dem Putin-Regime und der Teilmobilmachung entkommen wollen. Dadurch könnte die Mobilisierung in der Diaspora gestärkt werden. Innerhalb der armenischen Gemeinden in den USA, Kanada und Europa setzen sich Aktivist*innen für mehr Zusammenarbeit und ein stärkeres Engagement für das Heimatland ein, das über die gegenwärtigen spontanen Spendenaktionen, touristische Reisen und Aktivismus in den sozialen Medien hinausgeht. Durch den zweiten Krieg um Bergkarabach 2020 haben sich der Umfang und die Formen der Solidarität mit dem Heimatland in der Diaspora zeitweilig gewandelt. Es wird interessant sein zu beobachten, wie sich die politische Bedeutung der Roots Mobility und ihre Auswirkungen auf die armenische Gesellschaft vor dem Hintergrund des russischen Kriegs gegen die Ukraine verändern werden.

Das Interview führte Anne Boden, Redakteurin für englischsprachige Publikationen am ZOiS.


PD Dr. Tsypylma Darieva leitet den Forschungsschwerpunkt Migration und Diversität am ZOiS.

Darieva, Tsypylma. Making a Homeland. Roots and Routes of Transnational Armenian Engagement. Bielefeld: transcript Verlag, 2023.