„Die regionalen Gouverneure in Russland sind nicht die Opfer des Regimes“
In ihrem neuen Buch „Non-Democratic Federalism and Decentralization in Post-Soviet States“ zeigen Irina Busygina und Mikhail Filippov, wie moderne autoritäre Regime wie Russland vermeintlich demokratische Institutionen zu ihrem Vorteil nutzen und sie zu Werkzeugen machen, um ihr politisches Überleben zu sichern.
Föderalismus und Dezentralisierung gelten gemeinhin als Instrumente, die demokratische Systeme stärken und nicht mit autoritären Regimen vereinbar sind. Was veranlasst Sie, diese Annahme in Frage zu stellen?
Mit unserem Buch wollen wir besser verstehen, wie moderne Autokratien funktionieren. Im Gegensatz zu anderen Autokratien kopieren moderne Autokratien viel von Demokratien. Dazu zählen insbesondere auch Föderalismus und Dezentralisierung. Russland hat beispielsweise das föderalistische System aus der Zeit des Zusammenbruchs der Sowjetunion geerbt, als es darum ging, Russland zu demokratisieren. Angesichts der Größe des russischen Territoriums war der Föderalismus eines der wichtigsten Elemente in diesem Demokratisierungsprozess. Wladimir Putin und die Präsidialverwaltung haben es jedoch geschafft, die Funktionsweise des Föderalismus zu ihren Gunsten zu verändern und gleichzeitig aber die Oberfläche dieser Institution zu bewahren. In unserem Buch argumentieren wir daher, dass Regime wie Russland die Institutionen des Föderalismus und der Dezentralisierung in Instrumente umgewandelt haben, mit denen sie die Kontrolle behalten und politische Instabilität begrenzen.
Wie schaffen es autoritäre Regime in föderalistischen und dezentralisierten Ländern, die Opposition und Zivilgesellschaft zu kontrollieren?
Dies ist in der Tat für jeden autoritären Herrscher wichtig. Schauen wir uns noch einmal Russland an. Das Land ist zu groß, als dass Moskau in der Lage wäre, das gesamte Gebiet zu kontrollieren. Hier übernehmen die Gouverneure diese Aufgabe. Sie kontrollieren ihre jeweilige Region und verhindern dort die Entstehung einer Opposition, die sich auf die anderen Regionen ausweitet und landesweit stark genug werden könnte, um die Herrschaft des Regimes zu gefährden. Das setzt natürlich voraus, dass die Gouverneure der Putin-Koalition angehören. Wir wollten in unserem Buch zeigen, dass die regionalen Gouverneure in Russland nicht die Opfer des Regimes sind. Es handelt sich vielmehr um Personen, die vom Regime ausgewählt wurden und die daraus eindeutig Vorteile ziehen. Sie kommen nicht durch eine freie und faire Wahl in ihr Amt. Nur die Kandidaten, die von Moskau zugelassen sind, können an den Wahlen teilnehmen. Und das politische Überleben eines jeden Gouverneurs hängt vollständig von seiner Loyalität zum Kreml ab. Aber um das noch einmal zu betonen: Die Gouverneure sind keine passiven Agenten. Sie profitieren von ihrer Position.
Neben Russland sind Ihre beiden anderen Fallstudien Kasachstan und die Ukraine. Warum diese beiden Länder?
Ich habe acht Monate lang in Kasachstan gearbeitet und war sehr beeindruckt, denn anders als das russische Regime, das sich für eine föderale Lösung entschieden hat, ist das Nachbarland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion einen anderen Weg gegangen: Es ist ein Einheitsstaat. Vieles deutet jedoch darauf hin, dass Kasachstan eine Politik der informellen Dezentralisierung verfolgt. Obwohl die nationalen Behörden die Leiter der Regionen (akims) ernennen und somit eine strikte politische Zentralisierung beibehalten, gibt es auf fiskalischer und administrativer Ebene eine Dezentralisierung. Ich fand es erstaunlich, dass das dezentralisierte und verfassungsmäßig föderale Russland mit Putin zunehmend zentralistischer wurde, während sich der Einheitsstaat Kasachstan in die entgegengesetzte Richtung einer stärkeren Dezentralisierung bewegte. Kasachstan ist ebenfalls ein riesiges Gebiet, aber mit interessanten Lösungen, die sich von denen Russlands stark unterscheiden.
Was Kasachstan und Russland gemeinsam haben, sind ihre personalistischen Regime. In der Ukraine hingegen gab es ein solches nie. Und während die Demokratie in Russland und Kasachstan nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nicht Fuß fassen konnte, ist sie in der Ukraine entstanden und hat überlebt. Warum also ist die Ukraine so anders? Die Ukraine ist ebenfalls ein Einheitsstaat, aber nach dem Euromaidan im Jahr 2014 begann die Regierung, Dezentralisierungsreformen zu fördern und verfolgte dabei einen ganz anderen Ansatz als das, was wir normalerweise unter Dezentralisierung verstehen. Sie konzentrierte sich nicht auf die Regionen, sondern auf die lokalen Gemeinden. Das ist außergewöhnlich und sehr spezifisch für die Ukraine.
Sie argumentieren, dass die Dezentralisierung in der Ukraine eine große Rolle beim Aufbau des nationalen Widerstands spielt, den wir seit Beginn des Krieges beobachten können. Können Sie das ein wenig erläutern?
Zunächst einmal müssen wir uns das Konzept der Resilienz ansehen. Resilienz ist ein System, das Schocks und Krisen gut absorbieren kann. Beide Systeme, Russland und die Ukraine, sind widerstandsfähig. Das ist sehr interessant. Allerdings gibt es einen Unterschied, denn auf der einen Seite haben wir demokratische Resilienz und auf der anderen autoritäre Resilienz. Was ist damit gemeint? Der Krieg hat den Prozess der Dezentralisierung in der Ukraine unterbrochen, aber er war bereits im Gange, und zwar so sehr, dass die lokalen Gemeinden zu Orten des Widerstands gegen die russische Aggression wurden. Wie ich schon sagte, hat das ukrainische Modell der Dezentralisierung nicht den Regionen, sondern den Gemeinden und Städten mehr Macht und Autorität verliehen. Ich halte das für eine sehr kluge Sache. Sie wollten diese Basisdemokratie aufbauen und der untersten Ebene mehr Macht geben. In Russland hingegen hat diese unterste Ebene absolut keine Autorität und keine politische Subjektivität. Als Russland die Ukraine angriff, sind die lokalen Regierungen der ukrainischen Städte nicht geflohen. Sie sagten: Wir bleiben und wir sind bei euch, denn wir sind gewählt und wir sind für euch verantwortlich. Und das war eine sehr wichtige Botschaft: Wir werden unser Land verteidigen. Das ist die Konsequenz daraus, Dezentralisierung auf der untersten Ebene umzusetzen.
Sie scheinen die Zukunft Russlands eher pessimistisch einzuschätzen. Ist das derzeitige System zu tief verwurzelt oder besteht Hoffnung auf Veränderung in der Zukunft?
Ich denke nicht, dass wir pessimistisch sind, wir wollen nur davor warnen, dass selbst wenn es zu lokalen Protesten kommt, wie kürzlich in Baschkortostan, dies nicht bedeutet, dass es sich um einen Trend handelt. Moderne Autokratien sollten nicht unterschätzt werden. Sie wissen, wie man demokratische Institutionen imitiert, und sie sind nicht primitiv, denn für sie ist das eine Frage des Überlebens. Wenn es um das eigene Überleben geht, dann setzt man seine ganze Intelligenz ein, um es zu erreichen. Russland hat den Ehrgeiz, eine Großmacht zu werden und die Weltordnung zu verändern. Das kann sehr gefährlich sein, und ich halte Russland auch für ein gefährliches Regime. Es hat keinerlei moralische Argumente und hält sich absolut nicht an internationale Regeln und Verpflichtungen.
Wir haben versucht herauszufinden, ob es neue Spaltungen und Fragmentierungen im russischen politischen Raum gibt. Das kann passieren und könnte das derzeitige Modell der Zentrum-Regionen-Beziehungen aushöhlen. Ich glaube nicht, dass das Modell einfach zusammenbrechen wird. Nur Reformen können einen umfassenden Übergang zu einem anderen System einleiten. Das derzeitige System kann nicht verbessert werden, es muss ein grundlegend anderes System werden. Aber das wird nur geschehen, wenn Putin an Popularität verliert. Der entscheidende Faktor für den aktuellen Zustand ist, dass Putin beliebt ist. Und wenn Putin gegen einen anderen Autokraten ausgetauscht würde, bliebe alles beim Alten. Wir hätten den nächsten Putin, der nur einige personelle Veränderungen in der Regierung und den Regionen vornehmen würde. Die aktuelle Situation würde sich nur dann ändern, wenn Putin seinen Einfluss bei den Gouverneuren verlieren würde. Solange er in Moskau sitzt und beliebt ist, gibt es nur eine Hoffnung, dass Russland seine Widerstandskraft verliert: die Regionen!
Das Gespräch führte Yvonne Troll, Kommunikationskoordinatorin am ZOiS.
Irina Busygina ist Research Fellow am Davis Center for Russian and Eurasian Studies an der Harvard University (USA).
Mikhail Filippov ist Professor für Politikwissenschaft an der Binghamton University (USA).
Busygina, Irina; Filippov, Mikhail. Non-Democratic Federalism and Decentralization in Post-Soviet States. Routledge, 2024.