"Es gibt 44 Millionen Selenskyjs"
Aus dem Englischen übersetzt von Armin Wolking.
Es wurden dieses Jahr viele Bücher über die Ukraine veröffentlicht. Wie fügt sich The Zelensky Effect in die aktuelle Literatur zur Ukraine ein?
Olga Onuch: Für uns ist Selenskyj ein exemplarischer Vertreter der sogenannten Unabhängigkeitsgeneration. Das sind Menschen, die jung waren, als die Ukraine unabhängig wurde, noch lebendige Erinnerungen an das Leben unter kommunistischer Herrschaft besitzen, die chaotischen 1990er- und 2000er-Jahre durchgemacht und als Erwachsene bestimmte Schlüsselmomente wie die Orangene Revolution oder den Euromaidan miterlebt haben, in denen klar wurde, über wie viel Macht die Menschen verfügen. Wir beschreiben die Entwicklung, die Selenskyj mit der Zeit durchgemacht hat, als die eines gewöhnlichen Ukrainers.
Henry Hale: Wir argumentieren für ein hohes Maß an Kontinuität, sowohl in Selenskyjs persönlichem Leben als auch in der historischen Entwicklung der Ukraine. Selbst in seiner Arbeit als Entertainer stellte Selenskyj oft einen Spiegel der ukrainischen Bürger*innen dar. Man kann Selenskyj nicht verstehen, ohne die Geschichte der Ukraine zu verstehen. Es ist nicht so, als hätten die Ukrainer*innen sich 2022 aus dem Nichts in jene beeindruckenden Menschen verwandelt, die sich Panzern in den Weg stellen. Tatsächlich können wir zeigen, dass die Ukrainer*innen schon die ganze Zeit ein sehr ausgeprägtes Gefühl staatsbürgerlicher Verpflichtung und der Verbundenheit mit ihrem Staat besessen haben.
Was ist der Selenskyj-Effekt?
Olga Onuch: Was wir erzählen, ist nicht Selenskyjs Geschichte. Es ist die Geschichte der ukrainischen Nation, die ihn geschaffen hat, und darüber, wie er es schaffen konnte, diese Nation, deren Teil er ist, hinter sich zu versammeln. Der Selenskyj, den wir heute kennen, ist das Produkt einer ukrainischen Staatsnation, in der sich gewöhnliche Bürger*innen trotz zahlreicher, sich überschneidender Krisen, die sie mit der Zeit durchgemacht haben, durchgängig selbst als die zentralen politischen Akteur*innen betrachten. Wenn Selenskyj darüber spricht, was ihn zu dem gemacht hat, der er ist, betont er genau das: eine inklusive staatsbürgerliche Identität, die auf der Einheit von Osten und Westen, von russisch- und ukrainischsprachigen Bürger*innen beharrt, anstatt sie zu trennen.
Henry Hale: Unser Argument ist nicht, dass Selenskyj für all das verantwortlich ist. Vielmehr spiegelt und verstärkt er bestimmte Wertemuster, die von der überwältigenden Mehrheit der Ukrainer*innen geteilt werden, über die Jahre entstanden sind und Selenskyj genauso geprägt haben, wie er sie letzten Endes selbst geprägt hat, als er begann sie zu verkörpern.
Olga Onuch: An mehreren Stellen in unserem Buch sprechen wir davon, dass es 44 Millionen Selenskyjs gibt. Damit meinen wir, dass er derselben staatsbürgerlichen Nation entstammt wie sie, und das ihn zu dem Selenskyj gemacht hat, den wir heute kennen. In unserem Buch geht es hauptsächlich darum, wie die Ukraine und ihre Bürger*innen Selenskyj hervorgebracht haben. Nur an wenigen Stellen sprechen wir darüber, wie Selenskyj selbst es geschafft hat, verschiedene Segmente der ukrainischen Gesellschaft hinter sich zu versammeln.
Was zeichnet eine staatsbürgerliche Nationalidentität aus, wie hat sie sich entwickelt und finden wir sie ausschließlich in der Unabhängigkeitsgeneration?
Olga Onuch: Was es für Ukrainer*innen bedeutet, ukrainisch zu sein, hat sich mit der Zeit immer stärker auf ein Verbundenheitsgefühl mit dem ukrainischen Staat bezogen und weniger auf eine bestimmte ethnolinguistische Identität. Ukrainer*in zu sein hat für sie mit ihrem Staat, der Demokratie und ihrer eigenen Rolle darin zu tun. Das ist mit staatsbürgerlicher Identität gemeint. Die Muttersprache von Menschen, die sich als Ukrainer*innen bezeichnen, kann Russisch oder Ungarisch sein, sie können einen russischen, polnischen oder jüdischen Hintergrund haben – aber sie alle sagen: „Ich bin Bürger*in dieser Demokratie und das macht an erster Stelle meine Identität als Ukrainer*in aus.“
Henry Hale: Aus wahrscheinlich nachvollziehbaren Gründen spüren Angehörige der Unabhängigkeitsgeneration das am stärksten. Ihr ganzes politisch aktives Leben haben sie als Teil einer unabhängigen Ukraine verbracht. Allerdings hat diese Form der Identität viel tiefere Wurzeln. Es gibt in der Ukraine eine in die Zeit der Sowjetunion zurückreichende Tradition der Dissidenz. Die Dissident*innen identifizierten sich damals sehr stark mit der Ukraine, und oftmals kamen sie auch aus den russischsprachigen Gebieten im Osten des Landes. Diese auf den ukrainischen Staat und nicht auf bestimmte ethnolinguistische Eigenschaften bezogene Verbundenheit mit der Ukraine hat ein Pflichtgefühl der Bürger*innen gegenüber ihrem Staat und ein Bedürfnis, selbst aktiv zu werden, erzeugt. Selenskyj verkörpert die Vorstellung, dass man als Bürger*in Verantwortung für sein eigenes Leben übernehmen muss.
Wie haben sich das Gefühl staatsbürgerlicher Identität und die Unabhängigkeitsgeneration im Allgemeinen in anderen postsowjetischen Ländern verglichen mit der Ukraine entwickelt?
Olga Onuch: Anders als in der Ukraine hat dieselbe Unabhängigkeitsgeneration in anderen postsowjetischen Ländern keine vergleichbare Abfolge von Massenmobilisierungen erlebt, bei denen sie selbst zentrale Akteure waren. Vermutlich hat sich das unterschiedlich darauf ausgewirkt, wie sie ihre eigene Rolle als Bürger*innen verstehen. Ich bin gespannt, was aus der Generation wird, die momentan in Belarus einen wirklich beeindruckenden Moment der Massenmobilisierung erlebt.
Henry Hale: In so ziemlich allen Ländern der ehemaligen Sowjetunion gibt es gewisse Spannungen zwischen einer ethnischen und einer eher staatsbürgerlichen Definition der Nation. Viele der identitätsbezogenen Konflikte in der Ukraine werden nicht von den Menschen selbst, sondern von den Eliten geschürt, die versuchen, aus ihnen für ihre eigenen Zwecke politisch Kapital zu schlagen. Sie nutzen diese Konflikte, weil sie es nicht schaffen, in grundlegenden Bereichen wie zum Beispiel der Wirtschaft Ergebnisse zu liefern. Also setzen sie auf Themen, die die Menschen spalten sollen. In der Ukraine versuchen sie das immer wieder und es ist gescheitert. Es war eine der wichtigsten Leistungen Selenskyjs, das Gefühl einzufangen, dass die Ukraine so etwas nicht nötig hat.
Was waren kritische Momente in der Entwicklung der Ukraine, der Post-Unabhängigkeitsgeneration und der ukrainischen Identität?
Olga Onuch: Bereits im Vorfeld der Unabhängigkeit kam es zu einer oft vergessenen Massenmobilisierung. Dann ist die Unabhängigkeit ein entscheidender kritischer Moment, gefolgt von den wilden 1990er-Jahren mit ihrem kompletten Chaos, die eine Art Zwischenphase darstellen, die uns bis zur Orangenen Revolution führt, die genauso wie der Euromaidan und natürlich der Krieg, der 2014 beginnt, ein weiterer kritischer Moment ist. Auch die Wahlen 2019 waren für die Ukraine ein kritischer Moment und stellen politisch eine Zäsur dar, da zum ersten Mal eine Partei eine absolute Mehrheit erringen konnte. Für große Teile der Bevölkerung war das ein Moment der Einigkeit. Der letzte kritische Moment ist die umfassende Invasion Russlands im Februar 2022.
Das Gespräch führte Henri Koblischke, studentische Hilfskraft im Bereich Kommunikation des ZOiS.
Olga Onuch ist Dozentin für Politik an der Universität Manchester.
Henry E. Hale ist Professor für Politikwissenschaft und internationale Angelegenheiten an der George Washington University.
Olga Onuch & Henry E. Hale: The Zelensky Effect. London: Hurst Publishers, 2022.