„Europa sollte versuchen, seine Vielstimmigkeit zu einer Stärke werden zu lassen“
In „Shades of Blue“ widmen sich Félix Krawatzek, Friedemann Pestel, Rieke Trimçev und Gregor Feindt dem politischen Projekt Europa zwischen Integration und Spaltungstendenzen. Dabei untersuchen sie verschiedene Vorstellungen von Europa und bieten einen neuen Blick auf die Chancen der Staatengemeinschaft.
Sie beschreiben in Ihrem Buch die europäische Idee als ein politisches Projekt sehr unterschiedlicher Nationalstaaten, die sich zumindest auf dem Papier einem gemeinsamen Wertekanon verpflichten – und das bereits häufig totgesagt wurde. Steht es tatsächlich so schlecht um Europa?
Wir glauben, es steht nicht per se schlecht um Europa. Was wir in den letzten Jahren sehen, ist, dass die pessimistischen Stimmen einfach mehr an Gehör gewonnen haben. Das wurde sicher durch Covid und den vollumfänglichen Angriff auf die Ukraine 2022 noch verstärkt. In unserem Buch zeigen wir aber, dass Europa eigentlich immer in einem Wettstreit unterschiedlicher Europavorstellungen und in einem Spannungsverhältnis zwischen Integration und Desintegration stand. Die Rede von einem gemeinsamen „Wertekanon“ hat das phasenweise gut überdeckt. Dieses Narrativ von europäischer Einigung und einer EU, die sich vielleicht sogar auf dem Weg zu einem nationalstaatsähnlichen Gebilde befindet, hat häufig Konflikte ausgeblendet, die es aber auch vor der Zäsur von 2022 gab. Deshalb der Titel „Shades of Blue“, denn die Schattierungen des europäischen Blau haben immer existiert.
Um herauszufinden, welche Vorstellungen von Europa existieren, haben Sie tausende Zeitungsartikel in sechs Fallländern analysiert. Weshalb haben Sie den Zugang über Diskurse in der jeweiligen nationalen Presse gewählt?
Unser Ziel war es, den in der vorherigen Forschung vorhandenen Fokus auf Eliten, politische Entscheidungsträger*innen und Institutionen, insbesondere der EU, und ihre Reproduktion von Europabildern zu korrigieren. Wir wollten ein breites Bild des Diskurses vermitteln und vermuteten gleichzeitig, dass der Pressediskurs von einem größeren Teil der Bevölkerung wahrgenommen wird und auch solche Diskurse abbildet, die jenseits der Presse stattfinden. Wenn etwa auf Twitter etwas Relevantes passierte, dann hat das eine Zeitung aufgreifen müssen, einfach weil es diskursbestimmend für das Thema war, was Europa eigentlich in den verschiedenen Ländern bedeutet. Mit unserer Herangehensweise möchten wir außerdem einen Beitrag zur Umfrageforschung leisten, die natürlich auch Europabilder im Hintergrund mitdenkt, häufig diese aber nicht weiter thematisiert. Wenn im Eurobarometer gefragt wird, wie stark sich eine Person mit Europa (im Vergleich zu ihrem Dorf oder Land) verbunden fühlt, dann geht man davon aus, dass die Leute, die so eine Umfrage beantworten, irgendein Bild von Europa im Kopf haben. Und das haben sie. Aber anstatt herauszufinden, worin dieses Bild genau besteht, und ob unterschiedliche Befragte dasselbe meinen, wird oftmals eine Übereinstimmung und Vergleichbarkeit unterstellt. Unser Zugang macht sichtbar, wo Widersprüchlichkeiten liegen, wie sich Europaverständnisse im Laufe der Zeit verändern, welche politischen Ereignisse diese Dynamiken erklären und wo es auch Ähnlichkeiten zwischen den Ländern gibt. Mit unserem Buch möchten wir dazu beitragen, diese Vielfalt dessen zu kartografieren, was Europa in verschiedenen europäischen Ländern eigentlich bedeuten kann.
Historische Erinnerung ist ein zentraler Punkt in Ihrer Annäherung an Europavorstellungen. Weshalb spielt der Umgang mit der Vergangenheit eine derart große Rolle?
Das zeigt sich sehr gut am Beispiel der EU-Osterweiterung. Als die baltischen und ostmitteleuropäischen Länder 2004 Mitglied in der EU wurden, war diese Beitrittsphase geprägt von einem riesigen Enthusiasmus. Für diese Länder bedeutete der Schritt die Rückkehr nach Europa, eine Vereinigung von Dingen, die zusammengehören. Das hat sich aber in den darauffolgenden Jahren grundlegend gewandelt. Im Zuge des Beitritts haben Polen und andere Länder gemerkt, wie schwer es ist, mit den eigenen Vorstellungen von Europa und europäischer Geschichte bei den alten EU-Mitgliedsstaaten Gehör zu finden. Besonders deutlich wird das, wenn man sich die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg anschaut. Insbesondere in Deutschland, aber auch in anderen Ländern, hat sich ein Holocaust-zentriertes Paradigma des „Nie wieder!“ entwickelt, das ein Leitelement der internationalen Politik und gesellschaftlichen Orientierung wurde und mit dem eine Anerkennung des einzigartigen Opferstatus der europäischen Jüdinnen und Juden einhergeht. Dieses Paradigma ist zu einer Zeit entstanden, in der ostmitteleuropäische Staaten an diesem Diskurs gar keinen Anteil hatten. In Vorbereitung des EU-Beitritts wurde nun erwartet, dass diese Staaten an der westeuropäischen Erinnerungsform teilnehmen, obwohl sie in ihrer Entstehung keine Rolle gespielt haben. Das führte schließlich zu Spannungen, bis im Baltikum, in Polen und anderen Ländern gesagt wurde: „Der Holocaust ist das eine, aber wir haben auch eine eigene Leidensgeschichte, die Teil der europäischen Geschichte ist.“
Im Buch thematisieren wir das als möglichen zweiten „europäischen Gründungsmythos“. Wenn der erste das Überwinden und Auseinandersetzen mit der Gewalt des Zweiten Weltkriegs, also besonders des Holocausts, ist, dann stellt sich die Frage, ob die ostmitteleuropäischen Staaten es schaffen, einen zweiten Gründungsmythos in das europäische Projekt reinzubringen, nämlich ihre eigenen traumatischen Erfahrungen mit der Gewalt des Stalinismus und der Sowjetherrschaft. Für sie steht nicht die Perspektive des Opferparadigmas und des „Nie wieder!“ im Vordergrund, sondern die des heldenhaften Widerstandes zuerst gegen die Faschisten, dann gegen die Rote Armee und schließlich gegen die sowjetische Besatzung oder Dominanz. Wenn wir zum Beispiel an den Warschauer Aufstand von 1944 denken, dann sehen wir hier eine heldenhafte Erinnerung, die nicht zu deutsch-französischen Blickwinkeln auf den Zweiten Weltkrieg passt. Daran sehen wir, wie politisch relevant diese Erinnerungskonflikte sind und dass es zu Erinnerungskonkurrenzen kommt.
Sie hatten bereits den vollumfänglichen Angriff Russlands auf die Ukraine 2022 erwähnt. Welche Folgen hatte diese Zäsur für Vorstellungen von Europa?
Zwei Folgen sind besonders markant. Die eine ist die eindeutige Gegenüberstellung Russlands zu Europa, damit verbunden die geografische Verschiebung der mentalen europäischen Landkarte. Das Narrativ, dass Europa von Lissabon bis Wladiwostok reicht, haben die meisten politischen Diskurse der Parteien der Mitte in Europa aufgegeben. Natürlich mehrten sich die kritischen Stimmen bereits mit der Annexion der Krim 2014, aber 2022 ist dann wirklich ein Bruchpunkt, an dem die Enteuropäisierung des heutigen Russlands stattfindet. Russland wird jetzt als Kontrastfolie, russische Geschichte und Kultur werden nicht mehr als Teil eines positiv konnotierten Europa gesehen.
Hinzu kommt auf der anderen Seite die relativ schnelle Europäisierung der Ukraine, die bis 2022 eher einen Zwischenstatus hatte, kulturell, politisch, aber auch geschichtlich. Seit 2022 sprechen Medien gerne davon, dass das europäische Herz in Kyjiw schlägt. Die Herz-Metapher wurde auch in früheren Konflikten, zum Beispiel den Jugoslawien-Kriegen, genutzt, um starke Europabilder zu zeichnen. Europäisierung ist hier klar das Resultat politischer Entscheidungen. Wenn man sich die Reden von Wolodymyr Selenskyj anschaut, dann ist das ein Topos, mit dem er ganz bewusst arbeitet. Gerade in der Frühphase des Krieges hat er häufig geschichtliche Referenzen verwendet, und das auf eine sehr elegante Art und Weise. Er hat beispielsweise Verknüpfungen zwischen Elementen der ukrainischen Geschichte und der Nelkenrevolution in Portugal 1974, dem Fall der Mauer in Deutschland 1989, der Französischen Revolution 1789 oder dem Widerstand Großbritanniens im Zweiten Weltkrieg gezogen. Und dadurch macht er deutlich, dass für ihn die Ukraine auch historisch immer ein europäisches Land war.
Was braucht Europa, um als starke politische Gemeinschaft zu überleben?
Europa muss vor allen Dingen die Unterschiede in Europabildern zwischen den Ländern thematisieren und sie auch aushalten. Wir glauben, ein großer Fehler des europäischen Projekts war der Versuch, Europa am Modell des Nationalstaats auszurichten und die Unterschiede weitgehend auszublenden. Die europäische Vielstimmigkeit ist nicht überwindbar, und wir glauben, Europa sollte versuchen, sie zu einer Stärke werden zu lassen. Den Slogan „United in Diversity“ kann man sich zwar gut auf einen Aufkleber drucken, aber ihn zu leben, ist unglaublich anspruchsvoll, gerade auch, weil die verschiedenen Europabilder ein Stück weit inkompatibel miteinander sind. Aber es braucht diese Debatte über die Anerkennung und Wahrnehmung der Unterschiede, und er muss auf Augenhöhe stattfinden. Man sollte nicht in die Versuchung verfallen, zum Beispiel aus einer starken deutschen Position heraus zu sagen: „Wir wissen, wie man mit einer problematischen Vergangenheit umgeht. Jetzt macht das mal bitte genauso in Estland.“ Da muss man an estnische Diskurse anknüpfen und den Erwartungen an Europa und den anderen politischen Forderungen, die dadurch artikuliert werden, einen Raum geben. Das Russlandbild ist eben ein ganz anderes in Polen und Estland als zum Beispiel in Spanien und Frankreich. Man kann den Menschen in verschiedenen Teilen Europas schlecht von Brüssel oder Straßburg aus ein Geschichtsnarrativ aufdrücken. Der Umgang mit diesen Unterschieden ist für uns der vielversprechendste Weg, um Europa stabil zu halten, und enorm wichtig für ein von breiter gesellschaftlicher Unterstützung getragenes europäisches Projekt.
Das Interview führte Yvonne Troll, Kommunikationskoordinatorin am ZOiS.
Félix Krawatzek ist Politikwissenschaftler am Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien, wo er den Forschungsschwerpunkt „Jugend und generationeller Wandel" leitet.
Friedemann Pestel ist Historiker an der Universität Tübingen.
Rieke Trimçev ist Politikwissenschaftlerin an der Universität Erlangen-Nürnberg.
Gregor Feindt ist Historiker am Leibniz-Institut für Europäische Geschichte in Mainz und assoziiertes Mitglied des Sonderforschungsbereichs „Humandifferenzierung“ an der Universität Mainz.
Krawatzek, Félix; Pestel, Friedemann; Trimçev, Rieke; Feindt, Gregor. Shades of Blue: Claiming Europe in the Age of Disintegration. Cornell University Press, 2025.