Meet the Author | Margarita Balmaceda

„Man kann nicht jeden Energieträger auf dieselbe Weise als außenpolitische Waffe einsetzen“

25.11.2021
Erdgasleitung im Dorf Boyarka in der Nähe von Kiew, Ukraine. IMAGO / ZUMA Wire

In ihrem Buch 'Russian Energy Chains' (Russische Energieketten) analysiert Margarita Balmaceda die Wertschöpfungsketten der drei größten fossilen Brennstoffexporte Russlands. Sie betrachtet die „Ruhe vor dem Sturm“-Periode zwischen Oktober 2011 und März 2014 als eine Momentaufnahme, an der sich umfassendere Prozesse ablesen lassen, und verfolgt die Reise eines exemplarischen Moleküls der Brennstoffe Gas, Öl und Kohle von seiner Produktion in Russland über Transit und Weiterverarbeitung in der Ukraine bis zu seiner Ankunft bei den Endverbraucher*innen in Deutschland. Das Buch macht sich Erkenntnisse aus Wirtschaftswissenschaft, Soziologie, Politikwissenschaft und kritischer Geografie zunutze, um den schmalen Grat zwischen Chance und Risiko, Bedrohung und Versuchung zu verstehen, der die Energiebeziehungen Russlands mit den postsowjetischen Staaten und Europa kennzeichnet.

Margarita Balmaceda

In Deutschland werden wir durch die öffentliche Debatte um Nord Stream 2 konstant daran erinnert, wie Russland seine Energiepolitik dazu nutzt, Macht über andere Staaten auszuüben. In Ihrem Buch argumentieren Sie, dass die Situation komplexer ist. Was fehlt in diesem Bild der Energiepolitik als einem Instrument Russlands, Macht über andere Länder auszuüben?

Lassen Sie mich zunächst sagen, dass ich nicht daran zweifele, dass Russland Energiefragen für außenpolitische Zwecke nutzt. Trotzdem fehlen in diesem Bild seit langem zwei Dinge. Erstens werden oft die Akteure außerhalb Russlands vergessen, in Deutschland, Belarus oder der Ukraine. In meinen anderen Büchern habe ich mich mit ihnen beschäftigt. Zweitens fehlt ein Bewusstsein dafür, dass unterschiedliche Energieträger unterschiedliche Eigenschaften besitzen, die dem, was sich mit ihnen anstellen lässt, Grenzen setzen. Deshalb wollte ich auch über die technische Seite sprechen und zeigen, wie sie sich auf die Verwendungsmöglichkeiten von Energie als politischem Druckmittel auswirkt. Diese Möglichkeiten unterscheiden sich von Energieträger zu Energieträger.

Sie sagen, dass die russische Energie lokalen Akteuren auch Chancen bietet. Wie haben Länder wie die Ukraine von der Energieabhängigkeit profitiert?

Hier würde ich zwischen lokalen Akteuren als Individuen und dem Staat als Ganzem unterscheiden. Lokale Akteure profitieren von diesem System der Energiebeziehungen hauptsächlich aufgrund dreier Faktoren: seiner Undurchsichtigkeit, seinen Schlupflöchern und der Arbitrage zwischen verschiedenen Märkten, also der Tatsache, dass in einem solchen System unterschiedliche Preise für dieselbe Ware zu finden sind. Dabei geht es nicht bloß darum, dass böse Oligarchen sämtliche Profite an sich reißen würden. Kurzfristig betrachtet ließe sich argumentieren, dass auch die fraglichen Staaten und Gesellschaften davon profitiert haben. Als Teil eines solches Systems konnten sie und ihre Staatskassen in ihrer Gesamtheit von den russischen Exporten profitieren, entweder durch niedrigere Öl- und insbesondere Erdgaspreise oder, wie im Fall von Belarus, weil sie aufgrund ihrer Rolle bei der Raffination Anteil an den Profiten der russischen Ölexporte hatten.

Innerhalb dieses Systems konnten Staaten sich auf einen gewissen jährlichen Transitgewinn verlassen – entweder in der Form von niedrigeren Preisen (wie im Falle von Erdgas, bevor die Transitzahlungen separat erhoben wurden) oder durch eigentliche Transitgebühren. Im Falle von Erdgas bedeutete Teil eines sehr umfangreichen Exportsystems zu sein, dass die Pipeline optimal ausgelastet wurde, um den Druck im System zu gewährleisten.  Dadurch wurde sichergestellt, dass das System auch für die Zwecke der heimischen Versorgung ordnungsgemäß funktionierte.

Damit kommen wir auf die technische Seite zurück. In Ihrem Buch analysieren Sie die Wertschöpfungsketten von Öl, Kohle und Gas in separaten Kapiteln. Warum ist es so wichtig, zwischen diesen drei fossilen Brennstoffexporten Russlands zu differenzieren?

Zunächst einmal können diese drei unterschiedlichen Energieträger nicht in derselben Weise als „außenpolitische Waffen“ eingesetzt werden. Besonders der Unterschied zwischen Erdgas und Öl liegt auf der Hand: Öl mag relativ einfach zu lagern sein, bei Erdgas ist das jedoch sehr schwierig. Auch die erforderliche Arbeitsintensität entlang der Wertschöpfungsketten macht einen großen Unterschied: Bei Erdgas ist zu Beginn und, wenn es für die Stromproduktion genutzt wird, auch am Ende eine stärkere Verarbeitung erforderlich. Beim Öl finden Sie hingegen aufgrund seiner Produktionsweise mehr Akteure in der Mitte der Kette, in der Phase zwischen Produktion und Endverbrauch. Außerdem besteht ein großer Unterschied, was die benötigten Investitionen angeht: Erdgas ist ein sehr fragiler, ätherischer Stoff. Um es in Bewegung zu bringen, braucht man eine hochspezialisierte Infrastruktur, die eigens dafür vorgesehen ist, einen gewissen Druck aufrechtzuerhalten und das Gas in Bewegung zu halten. Es sind also deutlich höhere Investitionen notwendig als beim Öl. Die unterschiedlichen Extraktionsmethoden, die Lagerung, Verarbeitung und der Transport der unterschiedlichen Energieträger beeinflussen ebenfalls, in welchem Maße lokale Akteure eine Rolle spielen können.

Kohle wird in der Literatur oft vernachlässigt. Sie argumentieren, dass die Ukraine insbesondere im Donbas eine andere Kohlestrategie verfolgte als andere Länder. Welche Auswirkungen hatte die materielle Beschaffenheit des Energieträgers in diesem Fall?

Aufgrund seiner materiellen Beschaffenheit ist Kohle ein sehr arbeitsintensiver fossiler Brennstoff. In den 1990er-Jahren waren etwa zwei Prozent der ukrainischen Bevölkerung in der einen oder anderen Weise im Kohlesektor beschäftigt. Damals herrschte eine große Angst, dass es im Donbas zu Massenarbeitslosigkeit und politischen Erhebungen kommen würde, falls der Kohlesektor zusammenbräche. Für ukrainische Politiker*innen hatte es also höchste Priorität, diese Beschäftigungsquelle nicht zu verlieren. Gleichzeitig forderten die internationalen Finanzinstitutionen, mit denen die Ukraine zusammenarbeitete, eine Umstrukturierung, die es erlauben würde, Minen bankrottgehen zu lassen und zu schließen, wenn sie wirtschaftlich nicht mehr rentabel waren. Dass die Dinge sich in der Ukraine so entwickelten, hatte teils mit der Angst vor Arbeitslosigkeit und teils mit der Vorstellung zu tun, dass die Kohle ein nationaler Schatz sei, eine Alternative, auf die die Ukraine zurückgreifen könnte, sollte Russland sich entschließen, seine Öl- und Erdgaslieferungen einzustellen. In Verbindung mit anderen Faktoren, zum Beispiel der Angst vor einer politischen Mobilisierung der Minenarbeiter*innen, verhinderte diese Vorstellung eine Reform des Systems. Außerdem begannen einige Leute – die späteren Kohle- und Stahloligarchen – zu verstehen, dass sie die Subventionen nutzen, sie zu einem Teil der Stahlproduktion machen, und noch höhere Profite mit Exporten in die Europäische Union erzielen konnten. Die ukrainischen Kohlesubventionen halfen ihnen dabei, zu den bedeutendsten Oligarchen der Ukraine und einigen der reichsten Menschen Europas zu werden.

Ihre Analyse zeigt, dass es in der Energiepolitik starke Pfadabhängigkeiten gibt, und Entscheidungen politische, wirtschaftliche und technologische Strukturen miteinbeziehen müssen, zum Beispiel die Verflechtung von Versorgungssystemen. Veränderungen scheinen vor diesem Hintergrund sehr schwierig. Welche Optionen hat die Ukraine? Und welche Rolle kann die EU spielen?

Pfadabhängigkeiten sind stark, sie zeigen uns aber vor allem, dass Veränderungen von außerhalb des Systems kommen müssen. Schauen wir auf die Ukraine, dann geschieht es dort bereits auf verschiedene Weisen. Erstens aufgrund der veränderten Politik desjenigen Landes, von dem die Rolle der Ukraine innerhalb der Wertschöpfungsketten abhängt, also Russland. Wenn Russland entscheidet, dass es sein Gas nicht mehr durch die Ukraine transportieren möchte, dann ist das ein externer Faktor, der sich auf das System auswirkt, ob es der Ukraine gefällt oder nicht. Eine zweite Erschütterung des Systems geht von der Politik der EU aus: Die Ukraine mag die Absicht haben, die Nutzung von Nord Stream 2 zu verhindern, um ihre Rolle als Transitland zu schützen. Wenn Europa sich jedoch entscheidet, weniger russisches Erdgas und Öl zu kaufen als bisher, dann kann auch die Ukraine ihre aktuelle Rolle innerhalb der bestehenden Wertschöpfungsketten nicht mehr spielen. Auch ein verändertes Bewusstsein für den ökologischen Kontext dieser Wertschöpfungsketten wird zu Veränderungen führen. Wenn Europa immer stärker auf erneuerbare Energien umstellt – eine Entwicklung, die in Deutschland bereits sehr ausgeprägt ist –, dann muss sich die Rolle von Transitstaaten verändern. Drittens, und das sehen Sie am Beispiel der Kohlewertschöpfungsketten, hat dieses ökologische Bewusstsein zu Diskussionen um eine CO2-Steuer geführt. Der Vorschlag, CO2-intensive Produktion zu besteuern, wirkt sich auch auf das wirtschaftliche Umfeld aus, innerhalb dessen zum Beispiel versucht wird, mit Stahlexporten Profite zu erzielen. Es gibt also die Möglichkeit eines Wandels, er wird jedoch vor allem von außen kommen, angetrieben durch exogene Faktoren. Momentan stellt das ein Land wie die Ukraine vor Herausforderungen. Es ist nicht ganz klar, welche Anpassungen sie gegenwärtig vornimmt und in der Zukunft vornehmen wird. Es werden jedoch Anpassungen nötig sein, denn ich glaube nicht, dass das aktuelle System auf lange Sicht aufrechterhalten werden kann.

Das Gespräch führte Stefanie Orphal, Leiterin der Kommunikationsabteilung des ZOiS.


Margarita M. Balmaceda ist Professorin für Diplomatie und internationale Beziehungen an der Seton Hall University, Mitarbeiterin am Davis Center for Russian and Eurasian Studies der Harvard University und am Harvard Ukrainian Research Institute.

Margarita M. Balmaceda: Russian Energy Chains. The Remaking of Technopolitics from Siberia to Ukraine to the European Union. Columbia University Press, 2021.