„Veränderungen kann es nur dann geben, wenn einheimische politische Kräfte und zivilgesellschaftliche Zusammenschlüsse stark genug werden”
In “The Irregular Pendulum of Democracy” beschäftigt Dimitri A. Sotiropoulos sich mit der Entwicklung der Demokratie in Serbien, Montenegro und Nordmazedonien. In diesem Interview erklärt er, welche Schwierigkeiten mit der Demokratisierung in der post-jugoslawischen Region verbunden sind und welche Chancen er für eine nachhaltige Demokratie sieht.
Aus dem Englischen übersetzt von Armin Wolking.
Sie haben Ihr Buch “Das unregelmäßige Pendel der Demokratie” (The Irregular Pendulum of Democracy) genannt. Was bedeutet das im Hinblick auf Serbien, Nordmazedonien und Montenegro?
Ich habe mich dieser Metapher bedient, um Demokratien zu beschreiben, die noch nicht fest etabliert sind, sogenannte unkonsolidierte Demokratien. Nicht nur in Südosteuropa, sondern überall auf der Welt sind diese Demokratien, seit sie autoritäre Herrschaftsformen hinter sich gelassen haben, auf ihrem Weg der Demokratisierung auf Hindernisse gestoßen. Was die Konsolidierung ihrer Demokratie betrifft, befinden sie sich immer noch in einem Schwebezustand.
Auf dem Weg zu weiterer Demokratisierung können solche Hindernisse von Zeit zu Zeit dazu führen, dass sich das politische Regime eines Landes in eine semiautoritäre Form der Herrschaft zurückverwandelt. In anderen Momenten machen unkonsolidierte Demokratien Fortschritte auf dem Weg zur Demokratie.
Diese Art der Bewegung sieht aus wie ein Pendel, allerdings nicht wie ein gewöhnliches Pendel, sondern eins, dessen Bewegung unregelmäßig ist. Die genaue Geschwindigkeit, mit der das Pendel zur Demokratie hin und wieder von ihr weg schwingt, lässt sich nicht wirklich voraussagen. Deshalb nenne ich es das unregelmäßige Pendel der Demokratie.
Welche Rolle spielen die Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft innerhalb dieser Pendelbewegung?
Viele Autor*innen haben zurecht betont, dass wir uns verschiedene Hintergrundvariablen anschauen müssen, um Demokratisierungsprozesse zu verstehen, zum Beispiel die wirtschaftliche Entwicklung oder Unterentwicklung eines Landes, seine politische Kultur oder sehr häufig auch die Art des politischen Parteiensystems, genauer gesagt, ob eine starke Polarisierung zwischen den wichtigsten Machtanwärter*innen vorhanden ist.
Ich halte das für einen sehr wichtigen Punkt, möchte aber gleichzeitig betonen, dass wirtschaftliche Entwicklung, politische Kultur und Parteiensystem nicht in einem Vakuum existieren, sondern immer in einen bestimmten Kontext eingebettet sind. Dieser Kontext sind die Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft, die sich von Land zu Land unterscheiden. Ich habe versucht, Populismus, Klientelismus und Korruption als drei Formen dieser Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft zu begreifen.
Populismus ist eine Ideologie, aber auch eine Art der Beziehung zwischen politischen Eliten und ihren Wähler*innen. An Korruption sind zwar offensichtlich deutlich kleinere Teile der Gesellschaft beteiligt und nicht die Gesellschaft als Ganze, trotzdem gibt es Beziehungen zwischen ihnen. Auf der einen Seite stehen staatliche Beamt*innen und auf der anderen Seiten Geschäftsleute, die bereit sind, sich Korruption zunutze zu machen und Einfluss auf die Gesetzgebung zu nehmen, um für Entscheidungen zu sorgen, die ihren Geschäftsinteressen dienlich sind. Klientelismus hat damit zu tun, dass staatliche Behörden einzelne Segmente der Wählerschaft bevorzugt behandeln, weil sie für diejenige Partei gestimmt haben oder stimmen würden, die ihnen bestimmte Vorteile verschaffen kann.
All jene Hintergrundvariablen – ob ein Land wirtschaftlich unterentwickelt ist oder keine ausreichend robuste demokratische Kultur besitzt – mögen im Zusammenhang mit den Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft von Bedeutung sein. Wenn politische Akteure undemokratische Entscheidungen treffen, tun sie dies jedoch jeden Tag auf Neue in einem bestimmten Kontext, einem Kontext, der in den Ländern, die ich untersucht habe, von Populismus, Klientelismus und Korruption geprägt ist.
Welche Rolle spielt Populismus im politischen und sozialen Diskurs Serbiens, Montenegros und Nordmazedoniens?
Populismus ist ein viel erforschter Begriff, über den es unter Politikwissenschaftler*innen kaum Einigkeit gibt. In der Regel schließe ich mich der Definition von Populismus als einer dünnen Ideologie an, die sich für Nationalist*innen, Zentrist*innen und sogar Sozialist*innen gleichermaßen eignet. Und obwohl das richtig ist, lege ich mein Augenmerk anstatt dessen auf die Art der Beziehung zwischen politischen Eliten, zum Beispiel einer populistischen Regierungspartei, und ihrem jeweiligen Klientel.
Populist*innen behaupten, dem Volk zu dienen. Wenn sie an die Macht kommen, dienen sie aber vor allem bestimmten sozialen Gruppen. In Südosteuropa sind dies zum Beispiel Beamt*innen, Kriegsveteran*innen oder Rentner*innen. Diese Beobachtung verdeutlicht mein Verständnis von Populismus als einer Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft, zwischen populistischen staatlichen Eliten und bestimmten Segmenten der Gesellschaften, welche von der Sozial- und Wirtschaftspolitik der Populist*innen auf dieselbe Weise profitieren, die ich auch im Hinblick auf Korruption beschreibe.
Sie beschreiben, wie weit Klientelismus und Korruption in der Region verbreitet sind. Warum scheint es so schwierig, Klientelismus und Korruption im post-jugoslawischen Raum einzudämmen?
Das hat mit der Tatsache zu tun, dass aufeinanderfolgende Generationen von Wähler*innen, aber auch aufeinanderfolgende Gruppen von Machthaber*innen politisch so sozialisiert wurden, dass sie das Spiel von Populismus, Klientelismus und Korruption mitspielen. Dieses Spiel ist jedoch nicht in allen Ländern gleich. In Serbien ist mit der Serbischen Fortschrittspartei seit 2012 eindeutig eine populistische Partei an der Macht. In Montenegro gibt es eigentlich keinen Populismus oder gab ihn zumindest bis zum Regierungswechsel 2020 nicht. Allerdings wurde die Regierung lange von der Demokratischen Partei der Sozialist*innen geführt, der häufig Klientelismus und Korruption vorgeworfen wurden. In Nordmazedonien bestand bis zum Sturz des früheren Premierministers Nikola Gruevski 2017 eine Situation, bei der alle drei genannten Formen der Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft zu finden waren.
Hoffnung auf Veränderung konnten wir im Kontext dieser drei Länder nur dort finden, wo es eine starke Oppositionspartei gab, die bei Wahlen mit der Regierungspartei um die Macht konkurrierte. In Nordmazedonien gibt es eine solche Partei, die Sozialdemokratische Partei (SDSM), in Montenegro und Serbien, wo die Opposition stark zersplittert ist, jedoch nicht.
Abgesehen davon braucht es eine starke Zivilgesellschaft, die sich hinter Versuche stellen würde, einen weiteren Demokratieabbau zu stoppen. Die Chancen, Demokratisierungshindernisse zu überwinden, sind gering. Einer der Gründe dafür liegt darin, dass die Zivilgesellschaft in Südosteuropa in der Regel nur über ein geringes Mobilisierungspotenzial verfügt und zudem zersplittert und innerlich gespalten ist. Einerseits braucht es also eine starke Oppositionspartei und andererseits ausreichende Unterstützung seitens der Zivilgesellschaft, um Veränderungen in den Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft anzustoßen.
Welche Chancen auf eine nachhaltige und funktionsfähige Demokratie haben diese Länder Ihrer Meinung nach in der Zukunft?
Üblicherweise wird auf diese Frage geantwortet, dass es keine Chance auf Fortschritt gäbe, solange die Europäische Union diesen Ländern keine Beitrittsperspektive bieten würde. Die EU müsse konkretere Zielvorgaben machen, damit Serbien, Montenegro und Nordmazedonien Fortschritte auf dem Weg der europäischen Integration machen. Allerdings ist dieses Argument einseitig. Meiner Ansicht nach kann es Veränderungen nur dann geben, wenn einheimische politische Kräfte und zivilgesellschaftliche Zusammenschlüsse stark genug werden, diese Veränderungen herbeizuführen. Um politische Veränderungen zu bewirken, reichen erleichternde Faktoren jenseits der Landesgrenzen nicht aus. Vielmehr müssen sich politische Parteien und zivilgesellschaftliche Zusammenschlüsse im Inland organisieren und Menschen mobilisieren. Fremde können nur bis zu einem gewissen Grad etwas bewirken, alles übrige, und vor allem den schwierigsten Teil, können nur die Menschen im Land selbst vollbringen. Nur wenn sich die politischen Eliten und auch die jeweiligen Gesellschaften selbst dazu entscheiden und auch in der Lage sind, sich für eine bessere Demokratie und eine schnellere Integration in die Europäische Union einzusetzen, kann es Fortschritte bei der Demokratisierung und Integration von EU-Beitrittskandidaten geben.
Das Gespräch führte Joschka Hofmann, studentischer Mitarbeiter im Kommunikationsbereich des ZOiS.
Dimitri A. Sotiropoulos ist Professor für Politikwissenschaft am Institut für Politikwissenschaft und öffentliche Verwaltung an der Nationalen und Kapodistrischen Universität Athen.
Dimitri A. Sotiropoulos: The Irregular Pendulum of Democracy: Populism, Clientelism and Corruption in Post-Yugoslav Successor States. Cham: Springer Nature Switzerland, 2023.