Meet the Author | Mitchell A. Orenstein

„Wir müssen die Transformation als eine umfassende Krise betrachten“

15.11.2021
Passant*innen in Moskau laufen an einem Bettler vorbei. IMAGO/ITAR-TASS

In „Taking Stock of Shock“ blicken Kristen Ghodsee und Mitchell A. Orenstein auf 30 Jahre Transformation in postkommunistischen Gesellschaften. Angesichts der unterschiedlichen Erfahrungen osteuropäischer Länder halten sie ein Narrativ für notwendig, das sowohl Katastrophen als auch Erfolge einschließt.

Mitchell A. Orenstein Alina Yakubova

Was hat Sie außer dem diesjährigen 30. Jahrestag des Zusammenbruchs des Kommunismus dazu motiviert, dieses Buch zu schreiben?

Alles fing mit einem Blogpost des serbisch-amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlers Branko Milanovic an.  Er schrieb, dass „die Mauer nur für manche gefallen ist“. Ich diskutierte darüber mit meiner Kollegin Kristen Ghodsee und uns fiel auf, dass wir vollkommen unterschiedliche Sichtweisen auf die politischen, wirtschaftlichen und sozioökonomischen Ergebnisse der Transformationsphase hatten. Teilweise lag das an den Ländern, mit denen wir uns jeweils beschäftigt hatten. Sie war auf Bulgarien spezialisiert, dem es ganz und gar nicht gut geht, während meine Arbeit sich um Tschechien und Polen drehte, denen es vergleichsweise gut ergangen ist.

Der öffentliche und politische Diskurs wird durch zwei sehr widersprüchliche Narrative der Transformation dominiert. Zum einen gibt es die J-Kurve. Sie beschreibt einen anfänglichen wirtschaftlichen Verlust, auf den eine dramatische Verbesserung folgte. Dieses Narrativ ist im Westen verbreiteter. Daneben gibt es jedoch noch ein anderes, vom russischen Präsidenten Wladimir Putin vorangetriebenes Narrativ, das die 1990er-Jahre als eine absolute Katastrophe darstellt. Dieses zweite Narrativ ist in der Region selbst weitverbreitet. Am Anfangs unseres Projekts glaubten wir, dass wir belegen könnten, welches der beiden Narrative richtig ist, wenn wir nur genug Daten sammeln würden.

Das überraschende Ergebnis war, dass beide Sichtweisen richtig sind. Auf der einen Seite haben einige Länder und Personen definitiv einen J-förmigen Wandel erfahren und befinden sich heutzutage in einer deutlich besseren Lage als zuvor. Andere erlebten jedoch einen vollkommenen sozioökonomischen Zusammenbruch. So wurde aus dem Buch letztendlich eher ein Versuch herauszufinden, für wen der Wandel katastrophale Folgen hatte, und wem es gut erging.

Wer sind denn die Gewinner*innen und Verlierer*innen des Wandels?

Die Visegrád-Länder schlagen sich im Großen und Ganzen relativ gut. Polen, Tschechien, Ungarn, die Slowakei, zu einem gewissen Grad Slowenien, und einige der baltischen Staaten, insbesondere Estland. Alle anderen Länder in der postkommunistischen Region haben einen katastrophalen Zusammenbruch erlebt. Der wirtschaftliche Kollaps, den ein postkommunistisches Land im Durchschnitt erlebte, war weit gravierender als die Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre. Es ist schwer zu begreifen, wie schlimm die wirtschaftliche Situation wirklich war, da es gleichzeitig einige Menschen gab, denen es erstaunlich gut erging.

Wichtig ist jedoch, genauer zu differenzieren, um welche Art von Krise es sich handelt. Einerseits ist es eine wirtschaftliche Krise, andererseits aber auch eine demographische. Die Sterberate schoss in die Höhe, während die Geburtenrate erheblich sank. Russland hat einen der stärksten Rückgänge der Lebenserwartung in der Geschichte der Menschheit erlebt, insbesondere, wenn man sich die Lebenserwartung von Männern in Friedenszeiten anschaut. Auch die Abwanderung war ein großes, sehr kontroverses Thema. Es gibt Länder wie Bulgarien, die geradezu leergefegt wurden. Die einzelnen Länder erlebten unterschiedliche Krisen, sie alle litten jedoch daran, dass eine Vielzahl schwerwiegender Krisen zusammenkam. Wir müssen die Transformation als eine umfassende Krise betrachten, die tiefgreifende Auswirkungen auf alle postsowjetischen Länder hatte.

Wie haben Ihre unterschiedlichen fachlichen Hintergründe Ihre Perspektiven auf das Thema und Ihre methodologische Herangehensweise geprägt?

Unsere unterschiedlichen Sichtweisen auf die Transformation waren auch das Resultat unserer jeweiligen Fachdisziplinen. In den Sozialwissenschaften herrscht noch kein wirklicher Konsens darüber, was in den letzten 30 Jahren der Transformationsphase geschehen ist. Kristen Ghodsee arbeitet hauptsächlich im anthropologischen Bereich und ich bin Politikwissenschaftler, ein großer Teil der Diskussion hat sich jedoch um wirtschaftliche Fragen gedreht. Allerdings sind die wirtschaftlichen Daten nicht sehr eindeutig, da die kommunistischen Volkswirtschaften ihre Entwicklung natürlich anhand anderer Kriterien als dem Bruttoinlandsprodukt maßen. Deshalb hielten wir es für notwendig, mehr auf Politikwissenschaft und Soziologie zurückzugreifen, und demographische Daten, aber auch Daten zur öffentlichen Meinung sowie ethnographische Daten einzubringen. Niemand hat sich bisher umfassend mit der ethnographischen Forschung zur Transformation beschäftigt. Diese interdisziplinäre Herangehensweise war im Grunde unsere Schlüsselmethode. Wir wollten sehen, was die jeweiligen Disziplinen zu sagen haben und die Ergebnisse vergleichen und einander gegenüberstellen, um letztendlich ein neues Narrativ der Transformation zu gewinnen.

Sie haben sich Daten aus 29 Ländern angeschaut. Auf welches Narrativ sind Sie dabei gekommen?

Es steht außer Frage, dass hinter den existierenden Narrativen bestimmte Absichten stecken und sie stark politisiert sind. Auch deshalb haben viele nicht komplett verstanden, was nach 1989 geschehen ist. Und aus diesem Grund haben wir ein drittes Narrativ entwickelt, das Ungleichheiten in den Mittelpunkt stellt. Durch die Einführung des Kapitalismus haben die Ungleichheiten massiv zugenommen. Für einige Menschen hat dies bisher nie dagewesene Möglichkeiten geschaffen, während gleichzeitig das soziale Auffangnetz zerstört wurde, von dem viele Menschen abhängig waren. Von Land zu Land, aber auch innerhalb von Ländern gibt es unterschiedliche Formen von Ungleichheit. Ein Fokus auf Ungleichheiten hilft uns dabei, die sehr vielfältigen und widersprüchlichen Ergebnisse der Transformation und ihren Einfluss auf die Politik in den einzelnen Ländern zu verstehen.

Können Sie Beispiele für Ungleichheiten innerhalb eines Landes nennen, und dafür, wie die dominierenden Narrative heutzutage politisch ausgeschlachtet werden?

Da gibt es zum Beispiel den gesamten Diskurs über Polen A und Polen B. In Polen A, das hauptsächlich in der Hauptstadt und anderen großen urbanen Zentren zu finden ist, sind westliche Tendenzen vorherrschend und alles läuft ziemlich gut. Aber es gibt noch ein Polen B, das vergleichsweise unterentwickelt ist, wo die nationalkonservative Partei Recht und Gerechtigkeit die Mehrheit ihrer Stimmen gewinnt.

Ich denke, dass im Westen das Narrativ dominierte: „Nun ja, ihr müsst halt all diese Reformen durchführen und dann wird alles wunderbar.“ Und wie sich herausstellte, war nicht alles wunderbar. Deshalb gibt es meiner Meinung nach das Erbe eines nie eingelösten Versprechens. Es gibt in der Öffentlichkeit ein tiefes Misstrauen gegenüber den dominanten Narrativen; es gibt ein Vermächtnis schwerwiegender Probleme, die nie angegangen wurden. Und jetzt herrscht in vielen Ländern das Gefühl, dass ein Diktator benötigt wird, um die Dinge wieder geradezubiegen. Dass sie den Westen und die Demokratie, westliche Normen und zu einem gewissen Grad sogar Unternehmen zurückweisen und ihren eigenen Weg gehen müssen, der um einiges nationalistischer und autoritärer ist.

Wir denken, dass eine neue Art der kapitalistischen Wirtschaft benötigt wird, die viel aufmerksamer gegenüber den Katastrophen ist, die geschehen sind. Das erweist sich als schwierig, da offen gesagt der Großteil der westlichen Institutionen stark politisiert ist. Sie glauben schlichtweg nicht daran, dass es nach dem Ende des Kommunismus eine sozioökonomische Katastrophe gegeben hat, und denken nicht, dass irgendetwas wirklich getan werden müsste. Was wir beobachten, ist eine Tragödie des liberalen Diskurses in der Region. Und ich glaube, dass auch der alternative „Katastrophen“-Diskurs eine Tragödie darstellt. Damit meine ich, dass die Lösungen, die von sich widersetzenden, antiwestlichen Kräften bevorzugt werden, ebenfalls dysfunktional sind. Eine gute Regierungsführung spielt für sie keine wirkliche Rolle, und sie werden meist von Gruppen vorgebracht, die sehr korrupt sind, und lediglich weiter von einer schwierigen Situation profitieren wollen. Letztendlich haben wir das Buch also geschrieben, um mit einem ehrlichen Blick auf die Ereignisse in den Umbruchsländern ein genaueres Bild zu erhalten, und damit eine mögliche Grundlage für einen anderen Ansatz in der Zukunft zu liefern.

Das Gespräch führte Yvonne Troll, Kommunikationskoordinatorin am ZOiS.


Mitchell A. Orenstein ist Professor und Leiter des Lehrstuhls für Russische und Osteuropäische Studien an der Universität Pennsylvannia und Senior Fellow am Foreign Policy Research Institute.

Kristen Ghodsee, Mitchell A. Orenstein: Taking Stock of Shock. Social Consequences of the 1989 Revolutions. Oxford University Press, 2021.