Meet the Author | Jan Matti Dollbaum

"Nawalny wird im Kreml offensichtlich sehr ernst genommen“

02.09.2021
Video screen grab/Moscow City Court Press Office/TASS A still image taken from video provided by a third party.

Jan Matti Dollbaum, Ben Noble und Morvan Lallouet haben ein Buch über den russischen Oppositionspolitiker Alexei Nawalny geschrieben. Sie stützen sich dabei vor allem auf umfangreiche Berichterstattung, Interviews mit Aktivist*innen aus Nawalnys Bewegung sowie auf eine Umfrage unter Abonnent*innen von Nawalnys Social Media-Gruppen. Im Meet the Author-Interview sprachen wir mit Jan Matti Dollbaum über den richtigen Moment für das Buch, das größte Missverständnis in der internationalen Öffentlichkeit und Nawalnys Zukunft in Russland.

privat Foto: Aleksandra Kaurin

Nawalny ist ja schon lange eine prominente Person in der russischen Opposition. Warum ist jetzt der richtige Moment für das Buch gekommen?

Die Idee, dieses Buch zu schreiben, kam uns ziemlich spontan Ende Januar dieses Jahres. Als Nawalny zurück nach Russland ging, es große Proteste gab und dieser Film über Putin erschien, erreichten uns Fragen von Studierenden und von Kolleginnen und Kollegen, ob es über Nawalny gute Bücher auf Englisch gibt. Und das mussten wir verneinen. Da kam uns die Idee: Wenn es das noch nicht gibt, dann würden wir versuchen, das selber zu schreiben. So kam auch dieses Autoren-Team zustande: Ben Noble hatte die Idee und hat dann Morvan Lallouet und mich eingeladen, weil wir jeweils unterschiedliche Perspektiven beisteuern konnten. Ich habe mich sehr mit Nawalnys Bewegungen beschäftigt. Morvan Lallouet hat sich mit Nawalnys ideologischer Entwicklung und mit seiner Karriere in der russischen Opposition beschäftigt. So kam dann dieses Team zusammen und wir haben das Projekt relativ schnell einem Verlag vorgestellt.

Was ist in Ihren Augen das größte Missverständnis in der internationalen Öffentlichkeit, wenn es um die Figur Nawalny geht?

Das ist eine gute Frage. Ich denke, es gibt zwei Missverständnisse, die parallel existieren: einmal, dass Nawalny ein demokratischer Held ist, wie man ihn sich wünschen würde, der für all das einsteht, was man vielleicht als westlich liberal sozialisierter Mensch so möchte: Menschenrechte, faire Behandlung aller, liberale Demokratie. Er ist natürlich auch einer der Stärksten, oder sogar der Stärkste, der sich gegen das russische autoritäre Regime positioniert.
Und dann gibt es das andere Missverständnis, das von der anderen Seite kommt, nämlich dass Nawalny ein xenophober Nationalist sei, mit dem man nicht nur nicht zusammenarbeiten sollte, sondern den man auch nicht moralisch unterstützen sollte.
Diese beiden Positionen prallen in der westlichen Öffentlichkeit aufeinander. Sie sind oft – weder die eine, noch die andere – nicht flankiert von wirklichem Hintergrundwissen und auch Wissen vom Kontext, in dem Nawalny operiert. Natürlich ist er irgendwie ein demokratischer Held, weil er sich mutig und furchtlos und ohne Rücksicht auf eigene Verluste gegen das Regime positioniert. Natürlich hat er auch nationalistische und rassistische Dinge gesagt. Das beides geht zusammen. Aber beides ist eben nicht so richtig verständlich, wenn man nicht den Kontext kennt: seinen persönlichen Werdegang auf der einen und den Kontext des russischen politischen Systems, in dem er sich bewegt, auf der anderen Seite. Wir versuchen in dem Buch keine Bewertung vorzunehmen, sondern diesen Kontext mitzuliefern und die Grautöne zu zeichnen, sodass sich dann die Leserin und der Leser das eigene Bild machen kann, besser als nur auf knappe journalistische Berichterstattung zurückzugreifen.

Welche überraschenden Erkenntnisse hatten Sie jetzt während der Arbeit an Ihrem Buch?

Wir stellen Nawalnys politisches Wirken im Buch nicht chronologisch vor, sondern anhand von drei Rollen, die er immer wieder eingenommen hat: Anti-Korruptions-Aktivist, Oppositionspolitiker und Protestanführer. Überrascht hat uns während des Schreibprozesses, mit welcher Beharrlichkeit und Anpassungsfähigkeit Nawalny zwischen diesen Rollen wechselt und sie miteinander in Beziehung setzt: Klappt es auf der politischen Bühne nicht, weil die Behörden sich aus vorgeschobenen Gründen weigern, seine Partei zu registrieren, wechselt er zum Straßenprotest – und nutzt diesen Protest dann strategisch, um eine schlagkräftige politische Organisation aufzubauen – wobei dann wiederum auch seine Korruptionsrecherchen zentral für die Mobilisierung sind.

Außerdem war es überraschend, in der Gesamtschau der letzten zehn Jahre zu sehen, wie stark auch der Kreml sich den Herausforderungen angepasst hat, die von Nawalny – und natürlich auch anderen Oppositionskräften – kamen: So hat Putin etwa mit der Annexion der Krim einen tiefen Keil in die nationalistische Opposition getrieben; oder auch die immer weitergehende Verschleierung von Informationen über Gehälter und Vermögen von Top-Beamten, die eine ganz klare Reaktion auf Nawalnys immer geschicktere Recherchen darstellten. Von der immer schärferen Repression mal ganz abgesehen. Man sieht also, dass auch der Kreml sich eindeutig anpasst und lernt, und dass Nawalny ganz im Gegensatz zu offiziellen Verlautbarungen offensichtlich sehr ernst genommen wird.

Sie schließen das Buch mit einem Kapitel über Nawalny und die Zukunft Russlands. Welche Zukunft hat denn Nawalny in Russland?

Ich denke, persönlich hat er erstmal keine richtig gute Zukunft. Ich kann mir gut vorstellen, dass er noch länger in Haft bleiben wird, als die zweieinhalb Jahre, die er jetzt offiziell abzusitzen hat. Es kommen neue Verfahren und ich denke, solange Putin an der Macht ist, ist es unwahrscheinlich, dass Nawalny freikommt. Und wie lange Putin an der Macht sein wird, wissen wir nicht. Was Nawalnys Bewegung betrifft – und das ist ja jetzt die aktuellere und vielleicht insgesamt noch die wichtigere Frage – auch da sieht es düster aus im Moment. Die Behörden gehen extrem heftig gegen die Bewegung vor, vielleicht auch heftiger als es Nawalnys Leute erwartet hatten. Im Moment hat jemand, der sich offiziell mit Nawalny assoziiert, eigentlich keine Chance mehr, am öffentlichen politischen Prozess teilzunehmen. Die Frage lautet also jetzt: Wie schafft es die Bewegung, sich von Nawalny zu emanzipieren? Sie ist dazu gezwungen und darin liegt vielleicht auch eine kleine Chance: dass all diese regionalen Büros im ganzen Land jetzt versuchen, die gesammelten Ressourcen und die geknüpften Netzwerke für eigene Projekte und eigene Ideen zu nutzen – ohne sich eben mit der Marke Nawalny zu assoziieren. Teilweise nimmt das jetzt schon Formen an, aber manche sind auch ins Exil gegangen oder völlig untergetaucht. Die einzige Chance dieser Bewegung ist, sich von Nawalny als Person zu emanzipieren und dadurch vielleicht auch ein besseres lokales Standing aufzubauen. Auch im Vergleich zum letzten Jahr hat sich die Situation ganz stark verändert, es ist noch mal viel repressiver geworden. Und in diesem Klima ist im Moment nicht viel mehr vorstellbar.

Dass Nawalny nach seiner Vergiftung nach Russland zurückgekehrt ist, hat für Aufsehen und teilweise auch für Bewunderung gesorgt. Dass das Regime die Repressionen gegen seine Bewegung so verschärft: Hat Nawalny sich verkalkuliert oder wäre das sowieso geschehen?

Das ist natürlich schwer zu beantworten. Ich glaube, dass Nawalny und seine Strateginnen und Strategen es einkalkuliert haben, dass er ins Gefängnis geht. Das ist Teil der größeren Strategie insgesamt, die er ja schon lange verfolg, dass er nämlich versucht, durch Aktionen Informationen über das russische Regime zu generieren: Er tritt als normaler Politiker auf, so hat er sich ja immer bezeichnet, und erfährt Repressionen. Seine Partei wird nicht registriert, er darf nicht öffentlich auftreten, er kommt im Fernsehen nicht vor, er steht dann am Ende nicht auf dem Wahlzettel. All das sendet Informationen aus darüber, wie die russische politische Realität funktioniert. Das war, denke ich, immer ein Teil seiner Strategie: sozusagen performativ zu zeigen, was das eigentlich für ein autoritäres Regime ist. Und das passt natürlich jetzt sehr gut in die Strategie. Er ist vergiftet worden, er hat sich im Ausland erholt, er kommt zurück und wird dann verhaftet. Er war ja nicht im Exil, er hat unfreiwillig das Land verlassen. Und das sendet die starke Information, dass jemand wie Nawalny dem System so im Weg ist, dass er erst vergiftet werden soll und wenn das nicht geklappt hat, ins Gefängnis gesteckt wird. Das heißt, das hat er wahrscheinlich einkalkuliert. Allerdings kann ich mir vorstellen, dass dieses harte Vorgehen gegen die Bewegung selber nicht Teil des Planes war und der Kreml sozusagen vorauseilend gehandelt hat, weil sie eben erkannt haben, dass diese Bewegung möglicherweise in der Zukunft eine Gefahr werden könnte. Nawalnys Bewegung hat ganz auf die Strategie Smart Voting gesetzt und Kandidatinnen und Kandidaten unterstützt, die gegen Einiges Russland antreten. Das braucht eigentlich organisationale Unterstützung von Nawalnys Strukturen. Dass diese Bewegung jetzt unterbunden wurde, war wahrscheinlich nicht eingeplant und ohne diese Unterstützung ist Smart Voting jetzt viel schwieriger umzusetzen.

Das Gespräch führte Stephanie Alberding, Kommunikationskoordinatorin am ZOiS.


Jan Matti Dollbaum ist Politikwissenschaftler an der Universität Bremen und forscht zu Protest und Opposition in Osteuropa, insbesondere in Russland.

Jan Matti Dollbaum, Morvan Lallouet, Ben Noble: Navalny. Putin's Nemesis, Russia's Future? (2021), Hurst.

Jan Matti Dollbaum, Morvan Lallouet, Ben Noble: Nawalny. Seine Ziele, seine Gegner, seine Zukunft. (2021), aus dem Englischen von Karlheinz Dürr, Stephan Kleiner, Stephan Pauli u. Alexander Weber, Hoffmann und Campe Verlag.