Meet the Author | Richard Youngs

„Neue Protestformen sind Teil eines globalen Trends”

20.09.2019

In seinem neuesten Buch untersucht der Politikwissenschaftler Richard Youngs, wie sich der gegenwärtige bürgerliche Aktivismus im Laufe der Zeit global verändert hat. Er konzentriert sich insbesondere auf die neuen Formen und Entwicklungen und blickt dabei auf die Auswirkungen des neuen bürgerlichen Aktivismus auf die Zivilgesellschaft. Dafür nutzt der Autor Informationen, die bei den bedeutendsten Protesten der jüngsten Zeit gesammelt wurden.

In Ihrem Buch beschäftigen Sie sich mit neuen Formen des bürgerlichen Aktivismus. Wann tauchten diese auf und was ist neu daran?

Verschiedene Formen von bürgerlichem Aktivismus gibt es schon seit einiger Zeit. Viele Formen, die wir heute sehen, sind nicht gänzlich neu, aber wir erleben eine Ära, in welcher der bürgerliche Aktivismus viel intensiver ist und sich neue Formen weltweit ausbreiten. Die neuen Protestformen der lokalen Graswurzelbewegungen, die wir im osteuropäischen Raum beobachten können, müssen als Teil eines globalen Trends verstanden werden. Wenn wir einzelne Länder betrachten, sehen wir intensivere und häufigere Proteste und es lässt sich beobachten, dass verschiedene Arten von informellen zivilgesellschaftlichen Organisationen entstehen – eine neue Art von Politik, oft auf lokaler Ebene. Sie haben alle eine nationale Spezifik, sind jedoch Teil eines heutigen globalen politischen Trends.

Am ZOiS wird ja vor allem zu Osteuropa geforscht. Gibt es in dieser Region Besonderheiten hinsichtlich dieser Entwicklung?

Ich denke, dass Formen des bürgerlichen Aktivismus in jedem Land dem lokalen politischen Kontext etwas Spezifisches zu verdanken haben. Während es sich um einen globalen Trend handelt, ist das interessante und bemerkenswerte die Art und Weise, wie der gegenwärtige bürgerliche Aktivismus sehr fest in lokalen Anliegen und Problemen verwurzelt zu sein scheint. Vor ein oder zwei Jahrzehnten waren die großen internationalen Kampagnen womöglich der dynamischste Bereich der globalen Zivilgesellschaft, während heute viele Aktivist*innen ihre Aufmerksamkeit zunehmend auf die lokale Ebene lenken. Wir beobachten diese Art von lokal verwurzeltem Aktivismus in sehr unterschiedlichen Ländern – von Russland bis zur Ukraine und Weißrussland. In jedem dieser Länder weisen Aktivist*innen ganz unterschiedliche Formen des lokalen Engagements und lokaler Ziele auf. Diese lokalen Formen des bürgerlichen Aktivismus nehmen zu und nebenbei sehen wir auch stärker politisierte Formen von Protest, die bekanntermaßen in vielen osteuropäischen Ländern wie auch in anderen Länder stattgefunden haben.

Im vergangenen Jahr hat Armenien große Proteste erlebt. Der Anführer der Protestbewegung, Nikol Paschinjan betonte stets, dass diese keine Farbrevolution sei. Warum war das so wichtig?

Natürlich unterscheiden sich die geopolitischen Faktoren, die die Euromaidan-Bewegung auslösten, bedeutend von der geopolitischen Situation, in der sich Armenien befindet. Es gab also nicht den gleichen geopolitischen Impuls hinter den Protesten in Armenien. Das Land hatte bereits über einige Jahre hinweg mehrere Protestzyklen durchlaufen, die allmählich die richtige Stoßkraft erlangten, um eine bedeutende politische Wirkung zu erzielen. Zu Beginn konzentrierten sich viele der Proteste auf ganz konkrete politische Fragen, nicht darauf, die Regierung zu stürzen. Sie brauchten einige Jahre, um eine gewisse Dynamik zu entfalten.

Am Fall Armenien besonders interessant ist es, die Ereignisse nach den Protesten zu untersuchen – in Osteuropa, doch gewiss auch global. Oft lässt sich beobachten, dass Proteste eine ziemliche große Bekanntheit und Wirkung haben, ihre Dynamik aber im Anschluss rasch nachlässt, weil die Protestierenden keine politischen Strategien formulieren können. Sie sind nicht in der Lage dazu, in die Mainstream-Politik einzusteigen. Im Moment sieht es jedoch so aus, als ob dies in Armenien tatsächlich passiert ist. Jedoch birgt dies viele sehr schwierige Herausforderungen, mit denen sich ein Land wie Armenien derzeit auseinandersetzen muss: Wie bringt man bürgerlichen Aktivismus mit einer allgemeinen politischen Parteiaktivität in Einklang?

Warum haben einige Protestbewegungen Erfolg, während andere scheitern?

In meinem Buch findet sich ein langes Kapitel, das dies untersucht. Wenn Sie sich in der Welt umsehen, sind einige der größten Proteste gescheitert, wohingegen die mit geringeren Teilnehmerzahlen womöglich erfolgreicher waren. Einige der Proteste, die in den geschlossensten, repressivsten Regimen stattfanden, waren erfolgreich, während diejenigen in etwas offeneren Ländern nicht zum Ziel führten. Kurz gesagt: Es ist wirklich nicht einfach, einen einzelnen Faktor zu identifizieren. Sie müssen im Detail den lokalen politischen Kontext und die von Aktivist*innen gewählten und angewandten Taktiken betrachten und darüber hinaus analysieren, wie sich die neuen Formen des bürgerlichen Aktivismus zu den traditionelleren Formen zivilgesellschaftlicher Aktivitäten sowie zur Mainstream-Politik verhalten. Die Analyse ergab, dass dieser letzte Faktor eine sehr wichtige Variable zu sein scheint.

Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für internationale politische oder institutionelle Akteur*innen?

Institutionelle Akteure wie die Bundesregierung, die Europäische Union und viele private Stiftungen investieren jedes Jahr Millionen und Abermillionen von Euro und Dollar in die weltweite Unterstützung der Zivilgesellschaft, neigen aber nach wie vor dazu, eher die altbekannten, formalisierten Organisationen der Zivilgesellschaft zu fördern. Diese Förder*innen erkennen, dass es eine neue Form des Bürgeraktivismus gibt; und obwohl sie versucht haben, ein gewisses Engagement mit diesen neuen Akteur*innen aufzubauen, erweist sich dies als eine ziemliche Herausforderung. Das Buch kommt zu dem Schluss, dass die internationale Gemeinschaft das Potenzial dieser neuen Formen des bürgerlichen Aktivismus noch nicht ausreichend auf ihrem Radar hat. Im Allgemeinen streben diese neuen Formen eine andere Art des Engagements mit internationalen Akteuren an. Jetzt liegt es an der internationalen Gemeinschaft, neue Formen des Aktivismus ernst zu nehmen, aber auch die Art und Weise, wie sie sich mit der Zivilgesellschaft befassen, neu zu definieren.

Das Gespräch führte Stefanie Orphal, Leiterin der Kommunikation des ZOiS.


Richard Youngs ist Wissenschaftler des Forschungsschwerpunkts Demokratie und Rechtsstaatlichkeit bei Carnegie Europe. Er ist Experte für die europäische Außenpolitik, inbesondere im Bereich der internationalen Demokratieförderung.

Richard Youngs (2019): Civic Activism Unleashed: New Hope or False Dawn for Democracy? Oxford University Press.